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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Da taucht ein Segel auf, ein plumper kleiner Körper wiegt sich unter ihm auf den Wogen. Noch ist das Fahrzeug weit entfernt, doch jedes Auge erkennt es als zur heimathlichen Flotte gehörig. Welcher Eigenthümer ist so glücklich, sein Eigenthum unverletzt hervorgehen zu sehen aus dem Vernichtungskampf? welche Gattin wird ihren Mann empfangen? welche Mutter ihren Sohn wiedersehen? Das sind die schlimmsten, die bangsten Minuten.

Langsam treibt der Nordostwind das Fahrzeug näher – nun kann sein Name festgestellt werden, und die Glücklichen drängen sich vor, um keinen Moment des Glückes zu verlieren. Neidisch ruhen die Augen der Uebrigen auf der Gruppe, die sich wortkarg begrüßt, man liest sein Denken und Fühlen ja aus jedem Blicke, aus jeder Bewegung heraus, da bedarf’s nicht vieler Worte. An einer Freude jedoch darf das ganze Dorf Antheil nehmen: das Fischerboot brachte – den ersten Häring. Die Kunde durchfliegt mit Blitzeseile den Ort, wer irgend kann, läuft zum Strande, um die fröhliche Mär bestätigt zu finden. Für kurze Zeit werden alle, die „draußen“ noch weilen, vergessen und nur die Güte und Zartheit der jungen Beute geprüft, gerühmt und sichere Hoffnung auf ferneren reichen Segen genährt.

Fast vier Monate sind verflossen, seit die Flotte auszog, und dem ersten Boote, welches trotz Sturm und Wetter wohlbehalten den Heimathshafen wiederfand, folgen nach und nach die andern. Jeder Tag bringt neue Freude, neue Erleichterung mit jedem eintreffenden Fahrzeug. Der Antheil der Armen fällt reichlicher aus denn je, auch für sie sind es Tage des Segens. Ist aber das letzte Boot eingelaufen, ohne zu große Havarien (Beschädigung) erlitten zu haben, und fehlt kein liebes Haupt, war der Fischsegen überdem ein reichlicher, dann strömt auch den holländischen Fischern Herz und Mund über. Es giebt frohe Feste, jubelnden Sanges voll vereinigen sich Alte und Junge und fessellos entströmt die Freude den befreiten Gemüthern. Dann gleicht das stille einfache Scheveningen einer Insel der Seligen, nur frohe Gesichter beleben die Straßen, und man vergißt nicht der Armen, die an solchen Tagen des eigenen Leids nicht gedenken im Mitgefühl des allgemeinen Wohlbehagens. H. Pichler.     




Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von0 Eduard Engel.
Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten.

VIII.

Der Mann der Göchinn war der Bruder von Sefchens Vater, welcher ebenfalls Scharfrichter war, doch da derselbe früh starb, nahm die Göchinn das kleine Kind zu sich. Aber als bald darauf ihr Mann starb und sie sich in Düsseldorf ansiedelte, übergab sie das Kind dem Großvater, welcher ebenfalls Scharfrichter war und im Westphälischen wohnte.

Hier, in dem „Freyhaus“, wie man die Scharfrichterey zu nennen pflegt, verharrte Sefchen bis zu ihrem vierzehnten Jahre, wo der Großvater starb und die Göchinn die ganz Verwaiste wieder zu sich nahm.

Durch die Unehrlichkeit ihrer Geburt führte Sefchen von ihrer Kindheit bis ins Jungfrauenalter ein vereinsamtes Leben und gar auf dem Freyhof ihres Großvaters war sie von allem gesellschaftlichen Umgang abgeschieden. Daher ihre Menschenscheu, ihr sensitives Zusammenzucken vor jeder fremden Berührung, ihr geheimnißvolles Hinträumen, verbunden mit dem störrigsten Trutz, mit der patzigsten Halsstarrigkeit und Wildheit.

Sonderbar! sogar in ihren Träumen, wie sie mir einst gestand, lebte sie nicht mit Menschen, sondern sie träumte immer nur von Thieren.

In der Einsamkeit der Scharfrichterey konnte sie sich nur mit den alten Büchern des Großvaters beschäftigen, welcher letztere ihr zwar Lesen und Schreiben selbst lehrte, aber doch äußerst wortkarg war.

Manchmal war er mit seinen Knechten auf mehrere Tage abwesend und das Kind blieb dann allein im Freyhaus, welches nahe am Hochgericht in einer waldigen Gegend sehr einsam gelegen war. Zu Hause blieben nur drey alte Weiber mit greisen Wackelköpfen, die beständig ihre Spinnräder schnurren ließen, hüstelten, sich zankten und viel Brantewein tranken.

Besonders in Winternächten, wo der Wind draußen die alten Eichen schüttelte und der große flackernde Kamin so sonderbar heulte, ward es dem armen Sefchen sehr unheimlich im einsamen Hause; denn alsdann fürchtete man auch den Besuch der Diebe, nicht der lebenden, sondern der todten, der gehenkten, die vom Galgen sich losgerissen und an die niederen Fensterscheiben des Hauses klopften und Einlaß verlangten um sich ein bischen zu wärmen. Sie schneiden so jämmerlich verfrorene Grimassen. Man kann sie nur dadurch verscheuchen, daß man aus der Eisenkammer ein Richtschwert holt und ihnen damit droht; alsdann huschen sie wie ein Wirbelwind von dannen.

Manchmal lockt sie nicht bloß das Feuer des Heerdes, sondern auch die Absicht, die ihnen vom Scharfrichter gestohlenen Finger wieder zu stehlen. Hat man die Thüre nicht hinlänglich verriegelt, so treibt sie auch noch im Tode das alte Diebesgelüste und sie stehlen die Laken aus den Schränken und Betten. Eine von den alten Frauen, die einst einen solchen Diebstahl noch zeitig bemerkte, lief dem todten Diebe nach, der im Winde das Laken flattern ließ, und einen Zipfel erfassend, entriß sie ihm den Raub, als er den Galgen erreicht hatte und sich auf das Gebälke desselben flüchten wollte.

Nur an Tagen, wo der Großvater sich zu einer große Hinrichtung anschickte, kamen aus der Nachbarschaft die Collegen zum Besuche, und dann wurde gesotten, gebraten, geschmaust, getrunken, wenig gesprochen und gar nicht gesungen. Man trank aus silbernen Bechern, statt daß dem unehrlichen Freymeister oder gar seinen Freyknechten in den Wirthshäusern, wo sie einkehrten, nur eine Kanne mit hölzernem Deckel gereicht wurde, während man allen anderen Gästen aus Kannen mit zinnernen Deckeln zu trinken gab. An manchen Orten wird das Glas zerbrochen woraus der Scharfrichter getrunken; niemand spricht mit ihm, jeder vermeidet die geringste Berührung. Diese Schmach ruht auf seiner ganzen Sippschaft, weshalb auch die Scharfrichterfamilien nur unter einander heurathen.

Als Sefchen, wie sie mir erzählte, schon acht Jahr alt war, kamen an einem schönen Herbsttage eine ungewöhnliche Anzahl von Gästen aufs Gehöft des Großvaters, obgleich eben keine Hinrichtung oder sonstige peinliche Amtspflicht zu vollstrecken stand. Es waren ihrer wohl über ein Dutzend, fast alle sehr alte Männlein, mit eisgrauen oder kahlen Köpfchen, die unter ihren langen rothen Mänteln ihr Richtschwert und ihre sonntäglichsten, aber ganz altfränkischen Kleider trugen. Sie kamen, wie sie sagten, um zu „tagen“, und was Küche und Keller am Kostbarsten besaß, ward ihnen beim Mittagsmahl aufgetischt.

Es waren die ältesten Scharfrichter aus den entferntesten Gegenden, hatten einander lange nicht gesehen, schüttelten sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_267.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)