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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Erbitterung gefoltert, sobald der Gedanke an den Marseiller ihn heimsuchte, vermied Emmanuele mit ängstlicher Sorgfalt auch die leiseste Anspielung. Crispina jedoch nahm diese Zurückhaltung für selbstlose Großmuth, und dieser Irrthum verfehlte nicht seine Wirkung. Sie gewöhnte sich an die Nähe des Mannes, den sie während der ersten Tage nach der Uebersiedlung wirklich gehaßt hatte, und aus der Gewohnheit entspann sich nach und nach eine Art von Regung, die um so mehr Aussicht auf Dauer versprach, als die äußere Situation Emmanuele’s mit jedem Quartal günstiger ward. Ursprünglich in bescheidenster Stellung, rückte er ziemlich rasch auf, nicht nur weil er ein gewandter und tüchtiger Arbeiter war, sondern vielleicht mehr noch mit Rücksicht auf die geradezu frappirende Bescheidenheit und Demuth seines Auftretens, die freilich in erster Linie durch das lastende Schuldbewußtsein und die immer nagende Angst bedingt war, seine Vergangenheit, die er bis dahin mit großer Geschicklichkeit zu bemänteln gewußt, möchte über kurz oder lang an den Tag kommen.

Ganz und gar schien Crispina mit ihrem Schicksal versöhnt, als sie am Schluß des ersten Jahres eine Tochter gebar, die ihrem ungestümen Thätigkeitstrieb eine neue Richtung gab. Die eitle, vergnügungssüchtige Frau ward – wenigstens vorläufig – zur eifrig sorgenden Mutter, die nichts Höheres kannte, als die rastlose Pflege ihres geliebten Kindes; die zum ersten Male seit Jahren zufrieden war mit der Gegenwart, und, so schwer es ihr sonst hielt, ein Unrecht einzugestehn, das Bekenntniß nicht unterdrücken konnte: der Zwang, den Emmanuele an jenem ereignißvollen Nachmittage in Rom auf sie ausgeübt, sei zu ihrem Heile gewesen.

Nacosta erschrak, als sie so ein Ereigniß erwähnte, das er grundsätzlich niemals mit einer Silbe berührt hatte. Das Ignoriren alles Vergangnen war bei ihm zu einer Art von abergläubischer Observanz geworden. Die Rede Crispina’s fiel ihm auf’s Herz, wie ein übles Vorzeichen.

Die nächsten Monate schon gaben ihm Recht. Eines Tages, da er mit einer geschäftlichen Meldung das Cabinet seines Principals betrat, erblickte er in der Fensternische die elegante Gestalt des jungen Marseillers, der ihn augenblicklich erkannte. Bleich und zitternd erledigte Emmanuele die Angelegenheit, die ihn hergeführt. Der Principal war durch anderweitige Interessen zu sehr in Anspruch genommen, um das seltsame Gebahren seines Angestellten einer besondern Aufmerksamkeit zu würdigen. Der Marseiller aber – das fühlte Emmaunele – war seiner Sache nun absolut sicher.

Wie ein Träumender schritt der Unglückliche nach seinem Bureau zurück. Noch am nämlichen Abend empfing er von seinem Chef eine Zuschrift, der das Gehalt für drei Monate in französischen Bankscheinen beilag. Herr Nacosta werde wohl wissen, welche Veranlassung für den Principal obwalte, die bisherigen Beziehungen ohne Weiteres zu lösen. Sollte er, der Chef, beziehungsweise sein Gewährsmann, Monsieur Andre Lacombe aus Marseille, sich wider Erwarten getäuscht haben, so gebe man Herrn Nacosta anheim, den Irrthum aufzuklären, wonach er alsdann die gegenwärtige Zuschrift als nicht geschehen betrachten möge.

Emmanuele war niedergeschmettert. Er wagte natürlich keinerlei Vorstellungen, weder den Hinweis auf die Gnade des heiligen Vaters, die ihm doch wohl dann nicht zu Theil geworden wäre, wenn er sich ihrer völlig unwerth erwiesen, noch die Berufung auf die nahezu anderthalbjährige untadlige Thätigkeit im Dienste der Firma, die ihn jetzt ungehört auf die Straße stieß. Zu einem solchen Versuch fehlte ihm jedes Selbstvertrauen, jeder Funke von Energie. Selbst das Zureden der empörten Crispina, die in der Derbheit ihrer trasteverinischen Sprache den Marseiller ein über’s andere Mal einen ehrlosen Schuft, einen Basilisken, einen giftigen Hund nannte, vermochte ihn aus seiner Erstarrung nicht aufzurütteln.

So beschloß denn Crispina, auf eigne Faust ihr Heil zu versuchen. Sie ließ sich in der Privatwohnung des Principals anmelden. Aber sie ward nicht vorgelassen. Zornentbrannt aus dem Vorzimmer nach der Treppe schreitend, begegnete sie ihrem ehemaligen Anbeter, der in höchster Gala, strahlend von Jugend und Eleganz, zum Diner kam. Sie sprach ihn an; sie ergriff ihn, da er vorüber wollte, beim Arme und überhäufte ihn mit den grimmigsten Vorwürfen. Wie er sich, erst mit Höflichkeit, dann mit Gewalt losmachen wollte, versetzte sie ihm mit dem wüthenden Zuruf: „Feige Canaille!“ einen Schlag in’s Gesicht und stürzte von dannen, – dem Portier in die Arme, der sie mit Gewalt in die Loge zog, minder aus Pflichtgefühl, als in übertriebenem Eifer, den vornehmen jungen Mann zu verpflichten, der hocherglühenden Angesichts oben am Rande der Treppe stand und wiederholt vor sich hinmurmelte: „Ah, l'infecte créature!“ Hatte er sie schon vorher gehaßt – aus verletzter Eitelkeit nämlich, weil er glaubte, sie habe ihn leichtherzig aufgegeben, – so hegte er jetzt einen förmlichen Abscheu vor der brutalen Derbheit dieses Vorstadt-Naturells, das ihn ehedem so entzückt hatte, und mit Genugthuung sah er dem etwas willkürlichen Verfahren des Portiers zu, der alsbald durch sein zehnjähriges Töchterchen einen der städtischen Sbirren herbei holen und die exaltirte Crispina in’s Municipal-Gefängniß abführen ließ.

Am nächsten Tage schon ward sie wieder entlassen, denn der livornesische Kaufmann, ein ängstlicher Herr und der geschworene Feind alles Dessen, was Aufsehen erregt oder die Kritik des Publicums herausfordert, hatte den Marseiller ersucht, die verwegene Angreiferin mit Verachtung zu strafen und von einer weiteren Verfolgung der Sache Abstand zu nehmen. Crispina aber war durch die eine Nacht, die sie hinter den Mauern des Kerkers verlebt hatte, wie in den Grundfesten ihres Wesens erschüttert. Eine dumpfe Wuth, eine Feindseligkeit wider Alles, was nur entfernt wie ein Gegner aussah, beherrschte sie von dieser Stunde an vollständig.

Der fernere Verlauf ihres Schicksals trug dazu bei, die Hartnäckigkeit ihrer Erbitterung zu steigern.

Während der kurzen Frist, die sie noch in Livorno verweilte, kamen ihr allerlei Gerüchte zu Ohren, die ihr das Blut in die Stirn trieben. Das Publicum, den stadtkundigen Zwischenfall in seiner Art commentirend, verwechselte Altes und Neues und erzählte sich so mit mannigfaltigen Ausschmückungen, der Grund jener Entlassung bestehe in der Veruntreuung einer namhaften Summe zum Nachtheil des livornesischen Kaufherrn. Auch Crispina ward auf seltsame Weise in die Affaire gemengt, dergestalt, daß die Hauswirthin, in deren Mansarde das unglückliche Paar sich ein Heim gegründet, die junge Frau eines Tags auf der Treppe ohne Weiteres zur Rede stellte, ihr unter leidenschaftlicher Anrufung Gottes und seiner Heiligen die Versicherung gab, so schmachvoll, wie durch die Ehrlosigkeit der Nacosta’s, sei ihr gut katholisches Haus niemals entweiht worden, und wenn die saubre Familie sofort ausziehe, so wolle sie, die Wirthin, gern auf die zwanzig Tage Miethzins, die seit dem Ersten des Quartals zu bezahlen wären, Verzicht leisten. –

So wenig die leichtsinnige Crispina seiner Zeit Bedenken getragen, als es galt, die Rechte Andrer unter die Füße zu treten, so scharf und so kraftvoll erwies sich ihr Gerechtigkeitssinn hier, wo sie die Beschädigte und Mißhandelte war.

Maßlos in ihrer Erwiderung, drohte sie dem Weibe mit Gift und Dolch, und erklärte ihr schließlich, daß die Nacosta’s viel zu hoch von sich dächten, um auch nur eine Secunde länger als nöthig unter dem Dache einer solchen verleumderischen Bestie zu weilen.

Tags darauf schon verkauften sie das geringe Mobiliar, das sie sich angeschafft hatten, zu einem Drittel des Werthes an einen Trödler, und wenige Stunden später saß die Familie in den Polstern der Diligence, die über Pisa nach der Hauptstadt Toscana’s führte.

Die glückliche Constellation, die es dem Manne ermöglicht hatte, in Livorno trotz der Unzulänglichkeit seiner Papiere eine Stellung zu finden, wollte sich nicht wiederholen. Vier Wochen lang machte Emmanuele alle erdenklichen Anstrengungen, – umsonst. – Zudem herrschte damals in Florenz eine so unnatürliche Ueberfüllung in allen Geschäftszweigen, daß er, selbst auf zureichende Empfehlungen gestützt, nur geringe Aussichten gehabt hätte.

Die Gelegenheit eines Fuhrwerks, das in Ermangelung zahlender Fahrgäste leer nach Ancona zurück wollte, veranlaßte ihn, ebenso plötzlich wie von Livorno sich von der Arno-Stadt zu verabschieden. Nach mehrtägiger Fahrt über den Apennin langte er in Ancona an.

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_264.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2021)