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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Der Eigenthümer, ein reicher sicilianischer Weinhändler, fand seine Rechnung dabei, die acht Wohnungen, die das Gebäude, dem ursprünglichen Plan zufolge, enthielt, in einige dreißig aus einander zu splittern und diese, meist nur aus einem einzigen Zimmer bestehend, an den Auswurf der großstädtischen Bevölkerung zu vermiethen.

Ein Portier, in der verschlagähnlichen Loge neben der Eingangsthür hausend, vereinnahmte allwöchentlich pränumerando die Miethsgelder, welche in ihrer Gesammtheit fast das Dreifache des Normal-Ertrages erreichten. Wer nicht zahlte, der ward am folgenden Tag auf die Straße gesetzt, und das zurückbehaltene Mobiliar, so erbärmlich es sein mochte, bürgte immerhin für den unerheblichen Rückstand. Uebrigens war eine derartige Exmission aus der Mieths-Caserne des Sicilianers seit mehreren Jahren nicht vorgekommen; denn da man die Unerbittlichkeit des Herrn und seines Portiers kannte, und die jedesmal zu erschwingende Summe an sich ja nicht hoch war, so bot man Alles auf, um sich das Geld zu beschaffen, – fünf oder sechs der Insassen durch ehrliche rastlose Arbeit, die Uebrigen auf jedem beliebigen Wege, vornehmlich durch das beliebte Gelegenheitsmittel der napoletanischen Lazzaroni: das Betteln.

Im obersten Stockwerk dieses Gebäudes wohnte seit mehreren Monaten eine Familie, die den übrigen Theilhabern der Etage aus mehr als Einem Gesichtspunkte interessant war.

Der Mann, ein ausgetrockneter Dreißiger von unglaublicher Hagerkeit, sah allerdings, wenn er so auf den Vorsprung des eisenvergitterten Ballons trat, um einen Arm voll Kinderwäsche auf die gestraffte Schnur zu hängen, wie der erste, beste Vagabund von Santa Lucia aus. Er trug dann ein zerrissenes und schmutziges Hemd, eine verschabte, mit Flicken besetzte Manchester-Hose, nur über der einen Schulter mit einem Bindfaden gehalten, – und, wenn’s hoch kam, eine Weste von gleichem Stoff, deren Vorderseite von den hartgewordenen Resten abgetropfter Macaroni-Brühe beinah versteinert erschien. Wenn er jedoch, was täglich um dieselbe Stunde geschah, das Haus verließ, so war er wie umgewandelt. Elegant war seine Erscheinung freilich auch dann nicht: aber es lag doch ein Hauch darüber, der die Proletarier des Miethshauses begreifen ließ, daß Emmanuele Nacosta einer besseren Sphäre entstammte. Sein sonst so wirres und langsträhniges Haar schmiegte sich dann ölgetränkt wider die unebenen Linien des eigenthümlich geformten Kopfes; er trug eine silberne Brille, einen modischen Hut, der bis auf einen verdächtig glänzenden Fettstreifen über der Krempe wohl conservirt war, und ein Costüm, das – man wußte nicht recht weshalb – einen Anflug geistlichen Wesens hatte – so ernst, so ehrbar und so gelehrt schlossen sich die schwarzen Kniehosen um die dunkelfarbigen Strümpfe, und so würdevoll hingen die schweren Rockfalten von den schmalen Hüften herab.

Vergeblich zerbrach man sich im siebenten Stockwerk die Köpfe, was Emmanuele Nacosta eigentlich treibe. Ernstliche Arbeit unmöglich – denn dazu verließ er viel zu spät seine Wohnung; das Metier eines Poverino jedoch, der die Inglesi um kleine Münze anspricht, weil er „vor Hunger sterbe“, ließ sich in diesem Costüm schlechterdings nicht ausüben. Ihn direct zu befragen, hatte Niemand den Muth, denn finster und in sich gekehrt schritt Nacosta an den Leuten vorüber, kaum ihren Gruß erwidernd und allzeit von übler Laune beherrscht.

Soviel war zweifellos, daß der geheimnißvolle Mensch wochenlang in der äußersten Noth gelebt hatte; erst seit Kurzem schien seine traurige Lage sich ein wenig gebessert zu haben: die Frau holte ab und zu ein paar Fische und etwas Obst, einmal sogar ein junges Huhn von den benachbarten Kaufständen, und dem anderthalbjährigen Kind hatte sie jüngst in der Strada dei Miracoli ein neues Gewand gekauft.

Diese Frau, mit Namen Crispina, war in vielen Beziehungen der gerade Gegensatz zu dem Gatten. Klein von Statur, ein wenig beleibt, aber von unglaublicher Lebhaftigkeit, beherrschte sie ihn durchaus. Im Anfang hatte sie ihren gebieterischen Einfluß derart geltend gemacht, daß ihr Mann Ordnung hielt in dem engen, freudlosen Raum und auch sich selbst, trotz aller Verstimmtheit, nicht ungebührlich vernachlässigte. Dann mit einemmal, wie sie gewahrte, daß Emmanuele’s Bemühungen, sich eine Stellung zu schaffen, dauernd erfolglos blieben, war sie gleichgültig geworden; ja, es hatte beinah’ den Anschein, als gewähre es ihr eine herbe Genugthuung, wenn sie den Menschen, der ihr goldne Berge versprochen, so traurig verwahrlost erblickte in seiner zerfetzten, schmierigen Haustracht – ein Bild des Ekels und des Jammers zugleich. Bei Nacosta selbst war es eine ähnliche Indolenz, die ihn, den ehemaligen päpstlichen Steuerbeamten, so kläglich herabwürdigte; nur entsprang sie aus andern Erwägungen. Er glich ein wenig jenen Verzweifelten, die ein Gelübde thun, nicht eher das Haar und den Bart zu scheeren, bis sie einen Verlust wieder eingebracht, eine Scharte ausgewetzt, eine Unbill gerächt haben.

Die Unbill, die Nacosta zu rächen hatte, war allerdings wohl verdient.

Ein Jahr lang hatte er zu Civitavecchia wegen schwerer Veruntreuungen im Bagno gesessen, bis der heilige Vater, aus Anlaß einiger aufsehnerregender Bekehrungen, ihn und eine Reihe andrer Verbrecher begnadigte.

Es hatte eine furchtbare Scene gegeben, als Emmanuele, von Civitavecchia nach Rom zurückkehrend, eben dazu kam, wie seine Gattin Crispina an der Seite eines eleganten Franzosen eine Carrozza bestieg, um nach der Oper zu fahren. Der begnadigte Sträfling, in der Qual seiner Eifersucht, packte den jungen Mann bei der Brust und schien im Begriff, sich über ihn herzuwerfen, wie ein reißendes Thier. Der Energie Crispina’s gelang es, die beiden Gegner zu trennen. Mit einem lächelnden „Auf Wiedersehn!“ wandte sie sich zu dem Franzosen und bat ihn, allein zu fahren; sie wolle sich unterdeß mit dem Wahnsinnigen, der nicht begreife, daß nach Allem, was vorgefallen, keine Gemeinschaft mehr obwalte zwischen ihr und dem Züchtling von Civitavecchia, ein für allemal aus einander setzen.

So erreichte sie mit Emmanuele Nacosta das Haus ihrer Mutter, wo sie seit der Verurtheilung ihres Mannes gewohnt hatte. Die Auseinandersetzung führte jedoch nicht zu dem erwarteten Resultat.

Emmanuele, sonst die Gefügigkeit selbst und fast ihr Sclave, weigerte sich mit kalter Entschlossenheit, die Treulose frei zu geben; und als sie ihm in’s Gesicht lachte und ihm zurief, er sei wohl der Letzte, den sie bei Ausführung ihrer Entschlüsse befragen würde, und nur um den Skandal zu vermeiden, habe sie ihn überhaupt mit nach Hause genommen, – da erinnerte er sie unheimlich rollenden Auges an die Thatsache, daß sie bei dem Verbrechen, für das er gebüßt hatte, seine Mitschuldige gewesen, und daß er ferner nicht schweigen werde, wenn sie ihn um des Fremdlings willen verrathe. Keine Drohung verfing, kein Flehen und keine Vorstellung. Vergebens suchte sie ihm mit ihrer unglaublichen Zungenfertigkeit darzuthun, daß er ohne sie weit bessere Aussichten habe, sich durch die Welt zu schlagen und sich anderwärts eine Heimath zu gründen; vergeblich schwur sie, ihm jeden Tag zu vergällen und ihn zu peinigen bis auf’s Blut, wenn er sie trotz alledem zwinge, ihm ferner anzugehören. Sie liebe ihn nicht; sie habe ihn niemals geliebt; jener französische Kaufmannssohn werde nach wie vor all’ ihre Gedanken ausfüllen. – Emmanuele blieb unerbittlich.

„Das wird sich finden,“ sagte er mit bebender Stimme. „Hab’ ich Dich nur erst wieder ganz in meiner Gewalt, kann ich Dir erst durch die That beweisen, wie es mir Ernst ist mit meiner Absicht, Dich froh und reich und glücklich zu machen, so wirst Du vergessen, was Dich bethört hat, und Du wirst einsehn, wie schmachvoll es war, Den verlassen zu wollen, den Du selber in’s Unglück gebracht hast.“

Kurz, die aufgeregte Crispina mußte sich fügen: es blieb ihr nur die Wahl, zu gehorchen oder nach dem Bagno zu wandern; denn vorläufig hatte der junge Marseiller, wenn die Sache ihm überhaupt mehr war, als eine flüchtige Tändelei, anderthalb Jahre noch in Rom zu verbleiben, daher denn die Entführung, die Crispina als Schlagwort in’s Treffen geschickt hatte, als dritte Möglichkeit nicht in Betracht kam.

Acht Tage später folgte Crispina ihrem Eheherrn nach Livorno. – Dort fand Emmanuele durch einen glücklichen Zufall schon nach kurzer Frist Arbeit, und zwar in den Bureaux eines großen Exportgeschäfts, das namentlich mit der Provence und Catalonien ausgedehnte Beziehungen unterhielt.

Zu Anfang ging Alles gut. Crispina empfand allmählich etwas wie Rührung beim Anblick seiner lustlosen Thätigkeit, die nur für sie und ihr Wohlergehn am Werke zu sein schien. Von wüthender

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