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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Sohnes nach Seesen zog, spielte vortrefflich Flöte, während die Mutter eine schöne Gesangstimme besaß, und wenn die Eltern am Abende mit einander musicirten, so lauschte der junge Ludwig andächtig den harmonischen Klängen. Auf einer kleinen, werthlosen Geige, die ihm der Vater auf einem Jahrmarkte gekauft, machte der künftige Meister seine ersten musikalischen Versuche, und als er größer geworden und einige Jahre der Braunschweiger Hofcapelle angehört, konnte er bereits im Jahre 1804, dank seinen durch eine geniale und rasche Auffassung unterstützten Studien, seine erste größere Kunstreise durch Deutschland unternehmen. Leipzig, die Metropole der deutschen Concertmusik, wurde die Wiege seines Ruhmes. Die Blicke der Welt wurden auf ihn gelenkt durch die glänzende Kritik der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ in Leipzig, in welcher der tonangebende aller damaligen Musikkenner, Rochlitz, über Spohr schrieb:

„Herr Spohr kann Alles! Was vorerst Richtigkeit des Spiels in weitester Bedeutung heißt, ist hier, gleichsam als sicheres Fundament, nur vorausgesetzt; vollkommene Reinheit, Sicherheit, Präcision, die ausgezeichnetste Fertigkeit, alle Arten des Bogenstrichs, alle Verschiedenheiten des Geigentons, die ungezwungenste Leichtigkeit in der Handhabung von diesem Allem, selbst bei den größten Schwierigkeiten – das macht ihn zu einem der geschicktesten Virtuosen. Aber die Seele, die er seinem Spiele einhaucht, der Flug der Phantasie, das Feuer, die Zartheit, die Innigkeit des Gefühls, der feine Geschmack, und nun seine Einsicht in den Geist der verschiedensten Compositionen und seine Kunst, jede in diesem ihren Geiste darzustellen, das macht ihn zum wahren Künstler.“

Das war der Virtuose Spohr. Ebenso früh aber wie das Talent der Reproduction regte sich in Spohr das selbstschöpferische Talent, der Schaffenstrieb, und das ist diejenige Seite seines Wesens, mit welcher er weit über Paganini hinausreicht. Paganini theilte das tragische Geschick aller großen Virtuosen, die nichts Anderes sein können als Virtuosen; Spohr’s Compositionen auf dem Gebiete der Symphonie und des Oratoriums, seine Concerte für Violine und seine Opern haben ihn überlebt, und von den letzteren steht die im Jahre 1823 erschienene „Jessonda“ noch heute auf dem Repertoire fast aller Opernbühnen. Man hat Spohr als Componist eine gewisse Weichlichkeit zum Vorwurf gemacht, die ihre Ursache in einer reichlichen Anwendung chromatischer Fortschreitungen findet; im Leben, in seinem Charakter war ihm dafür jeder Ansatz zur Weichlichkeit um so fremder, und was uns den Menschen Spohr zu einer fast noch sympathischeren Figur macht als den Künstler und Componisten, das ist die ehrliche Geradheit seines Wesens, seine kühne Ueberzeugungstreue auch in politischen Dingen. Mit dem vollen sittlichen Ernst des deutschen Mannes trat er überall für die Wahrheit und Freiheit ein, unbekümmert darum, ob seine Offenheit an „höherer Stelle“ Anstoß errege; alles Kleinliche war ihm dabei verhaßt, und seine Bescheidenheit war so groß wie seine Verdienste.

In Kassel, wo Spohr seit 1822 als Capellmeister thätig war, lebt im Gedächtniß der Bevölkerung noch manche charakteristische Aeußerung des alten Spohr. An einem heißen Sommerabend schritt der Meister mit einem Wintermantel bekleidet über die Straße.

„Sind Sie krank, lieber Capellmeister?“ erkundigte sich ein ihm begegnender Bekannter theilnehmend.

„Gott sei Dank, nein,“ lächelte Spohr, „weshalb fragen Sie?“

„Weil Sie sich derartig eingehüllt haben.“

„Ach so,“ erwiderte der Componist. „Ja, sehen Sie, ich gehe zum Theater, um die Festoper zum Geburtstag des Kurfürsten zu dirigiren, und ich nehme Anstand, mich so“ – dabei schlug er den Mantel zurück und zeigte seine mit Orden bedeckte Brust – „öffentlich auf der Straße zu zeigen.“

Unter den Orden aber, die seine Brust schmückten, befanden sich einige, die den höchsten Ehrgeiz hätten befriedigen müssen, wie der preußische Orden pour le mérite. – Solche freimüthige Aeußerungen erregten oft in Hofkreisen Entsetzen, und Spohr’s entschiedene liberale Gesinnung brachte ihn in der kleinen von einem reactionären Geist durchwehten Residenz in manche Collision, die von einer mißgünstig gesinnten Hofclique ausgebeutet wurde. Auf dem blanken Schild seiner Mannes- und Künstlerehre vermochten seine Gegner keinen Flecken zu erspähen, aber die Verleumdung ruhte nicht und sie erreichte es endlich, daß der Mann, der die hervorragendste Zierde der Kasseler Künstlerwelt bildete, im Jahre 1857 plötzlich pensionirt wurde – gegen seinen Willen und, was dieser Maßregel ein besonders häßliches Gepräge giebt, mit einer geringeren Pensionssumme, als ihm contractlich zustand.

Das Bild dieses edlen deutschen Mannes heute in die Erinnerung unserer Leser zurückzurufen, erschien uns als eine Ehrenpflicht gegen Ludwig Spohr, wenn die „Gartenlaube“ auch schon in einem früheren Jahrgange (1861, Nr. 6) den Lebensgang und die Verdienste Spohr’s in einem anschaulichen Charakterbilde dargestellt hat. Indem wir die älteren Anhänger der „Gartenlaube“ auf den damals veröffentlichten, mit Spohr’s wohlgetroffenem Portrait geschmückten Artikel verweisen, glauben wir diese Skizze nicht besser abschließen zu können als mit den Worten, in denen jener Artikel Spohr’s Person und Wirken kennzeichnete: „Er hat in seinem ganzen Leben keine einzige gemeine Notenzeile hingeschrieben und keine einzige gemeine Handlung begangen.“


Wein, Weib und Gesang. (Mit Illustrationen Seite 228 und 229, 236 und 237.) Die sonnige, Lebensfreude und heitere Sinnlichkeit athmende Composition C. Röhling’s, die wir den Lesern der „Gartenlaube“ im Holzschnitt heute vorführen, knüpft an einen Kernspruch Martin Luther’s an. Der große Reformator hatte bekanntlich trotz seiner überstrengen Erziehung, trotz der harten Seelenkämpfe im Erfurter Kloster und bei seiner ernsten und schweren Reformationsarbeit nie die volle gesunde Freude am Leben und die kräftige Empfänglichkeit für die Annehmlichkeiten des Daseins verlernt; er hatte sich stets den offenen Weltsinn zu erhalten gewußt, ohne welchen seine Bibelübersetzung unmöglich ihre unvergleichliche Frische und Volksthümlichkeit im Ausdruck hätte gewinnen können. Leider kommt diese, die menschlich interessanteste Seite von Luther’s Person selten recht zur Geltung, weil das Leben und Wirken des großen Mannes dem deutschen Volke zumeist in Darstellungen geistlicher Verfasser vorgeführt wird, die aus einer gewissen Scheu den Menschen Luther gegenüber dem Reformator zurückzudrängen suchen. Aber es ist wohl bekannt, daß Martin Luther fröhlichen Herzens war, wie ein zielbewußtes und gutes Streben zumeist die Seele zuversichtlich und heiter stimmt; er erwähnt selbst des Oefteren, daß ein guter Trunk mit seinem Freunde Philippo ihm wohl gemundet habe; eine gute Hausmusik war der Sonnenschein im Heim des Doctor Martin, und was ein züchtig und lieblich Weib für ein köstliches Ding sei, darüber ist uns mancher gute Spruch von ihm erhalten geblieben. So wies er die drei Freuden des Daseins, Wein, Weib und Gesang, durchaus nicht in ascetischer Einseitigkeit von sich, sondern erklärte vielmehr den für einen Narren, der dies thäte.

Der Berliner Künstler Carl Röhling hat es nun unternommen, das Luther’sche Kernsprüchlein zum Gegenstand einer großen bildlichen Composition zu machen, und der Leser kann sich selbst davon überzeugen, wie prächtig ihm seine Absicht gelungen ist. Die beiden allegorischen Figuren des Gesangs und der Weiblichkeit, welche der Leser auf S. 236 und 237 findet, und die bei Röhling das große auf S. 228 und 229 dargestellte Mittelbild flankiren, sind Gestalten von sinniger, charakteristischer Auffassung, während das große Gruppenbild sich durch eine effectvolle Anordnung auszeichnet. Verstehen wir den Künstler recht, so ist es die Wirkung des Weines, welche dieses Mittelbild zum Gegenstande hat. Die Geister des Weines und des Lautenspieles haben die Gemüther heiter und harmonisch gestimmt, eine ungezwungene Fröhlichkeit herrscht in dem geselligen Kreise. Dem Ritter und der zärtlich zu ihm aufblickenden Edeldame ist es zu eng geworden in dem vom Weindufte durchzogenen Gemach; sie sind im Begriffe, an die Balustrade hinauszutreten, von wo sich ein weiter Blick aufthut auf die Stadt mit ihrer alterthümlichen Architektonik, auf den blauen Fluß und das lachende Gelände. Ihnen hat Gott Amor das Herz gerührt; der alte dicke Rathsherr dort an der Tafel lacht herzlich über den Streich, den der lustige Gott da wieder begangen hat, aber vielleicht besitzt er zum Spott am allerwenigsten ein Recht, denn seine Nachbarin zur Linken sieht ihm so überaus freundlich in das vom Weine und vom Lachen geröthete gutmüthige Gesicht, daß er sich wohl selbst bald von der „Linken umgarnen“ läßt. Das ihm gegenübersitzende Paar, das ganz in die süße Weise eines Volksliedes versunken scheint, und der übermüthige Gesell, welcher die Schenkin keck um die Hüfte faßt, illustriren in anderer Weise die Wirkung des Weines.

Für den eigenthümlichen Entwickelungsgang Carl Röhling’s ist diese Composition entschieden charakteristisch. Der im Jahre 1849 zu Berlin geborene Künstler fühlte von jeher den Drang in sich, in großen Zügen zu gestalten; so übte er sich schon, als er zu zeichnen begann, mit Vorliebe im Entwerfen und machte seine Studien auf der Berliner Akademie (während der Jahre 1865 bis 1868) als Bildhauer. Besonders wandte er sein Interesse der Reliefcomposition zu. Obgleich aber verschiedene Preise, die er auf der Akademie davontrug, ihn eigentlich hätten bestärken sollen, auf dem betretenen Wege weiter zu schreiten, entsagte Röhling nach Beendigung seiner Studienzeit der Bildhauerei ganz. Angeregt durch die damals eben erschienenen Grote’schen Classiker-Ausgaben, widmete er sich der rasch aufblühenden Bücher-Illustration, später erst der Malerei, dem decorativen Gemälde. Ein außerordentlich vielseitiges Talent, hat Röhling sich seit einigen Jahren mit großer Begeisterung der so vornehmen und interessanten Technik der Kupferradirung zugewandt und beabsichtigt sogar, in derselben künftig ausschließlich thätig zu sein. Wir wollen bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, die im Verlag von Rudolf Schuster in Berlin erschienene Kupferradirung der Composition: „Wein, Weib und Gesang“ unseren kunstverständigen Lesern angelegentlich als künstlerisch werthvollen Zimmerschmuck zu empfehlen.


Neue Liste der Vermißten.

1) Johann Wilhelm Müller, geboren zu Heerlen 1861. Als Koch im Hotel „Palmengarten“ zu Frankfurt am Main, reiste er im Mai 1882 nach Nürnberg, um in der damaligen Ausstellung daselbst in seinem Fach Stellung zu finden, verließ jedoch Nürnberg schon am 1. Juni wieder, und seitdem sind alle Nachforschungen nach ihm vergeblich gewesen. Die tief betrübten Eltern hoffen auf eine Nachricht.

2) Am 26. März 1866 hat sich Ernst Faßhauer, ehemals Weinwirth in Kassel, von da entfernt, um eine Stelle in Potsdam anzutreten. Es ist sicher, daß derselbe von da nach Berlin übersiedelte, wo er spurlos verschwunden ist.

3) Joseph Weber aus Nußberg bei Ossiach in Kärnthen, geboren am 5. Februar 1855, Buchhändler. Er wollte im März 1881 von Hannover nach Nußberg zurückkehren, um seine Mutter zu besuchen und gleichzeitig dort ihm gehörende Gelder zu erheben. Auf der Hinreise besuchte derselbe seine Schwiegermutter in Schönebeck bei Magdeburg, begab sich dann weiter nach Leipzig und ist von da an jede Spur von ihm verwischt.

4) Der Kaufmann Julius Franz Luft aus Oelsnitz im Vogtlande, war bis Mai 1877 in Wien in Stellung. Er schrieb von dort am 25. Mai an die Seinen, daß er Heimreisen und einige Wochen bei ihnen in Oelsnitz verleben wolle. Mit einem Brief vom 12. Juni sandte er auch mehrere Kisten und Koffer voraus, er selbst wollte die Heimfahrt über Passau einschlagen und sich unterwegs ordentlich umsehen. Er kam jedoch nicht in der Heimath an und fehlt noch bis heute jede Spur über seinen Verbleib. Der Vater ist seitdem aus Gram gestorben, Mutter und Geschwister hoffen aber noch, durch diesen Aufruf wenigstens etwas über sein Schicksal zu erfahren.

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