Seite:Die Gartenlaube (1884) 238.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

des vaterländischen Aufschwunges der Befreiungskriege vorübergerauscht war. Grabbe schrieb seinen formlosen, aber genialen „Napoleon oder die hundert Tage“, Zedlitz widmete dem großen Krieger und noch größern Tyrannen einige „Todtenkränze“ und dichtete die „Mitternächtige Heerschau“, aus welcher eine abergläubische, mit Grauen vermischte Bewunderung Napoleon’s spricht, und Heine schrieb das Buch vom Tambour Le Grand in den „Reisebildern“ und „Die beiden Grenadiere“, ein so schönes Gedicht, wie es die napoleonische Legende keinem französischen Poeten eingegeben hat. Und noch in der letzten Zeit war es das Buch eines Deutschen, „Gambetta und seine Heere“ von v. d. Goltz, das einem Franzosen die Gerechtigkeit zu Theil werden ließ, welche er bei seinen Landsleuten weder im Leben noch nach seinem Tode gefunden hat.

Die kleinen Völker werden über den großen nicht vernachlässigt. Die Serben erheben sich unter Karageorgiewitsch wider die Türken. Europa weiß damals von ihnen ungefähr so viel, wie heute von den hamitischen Stämmen des Sudans. Goethe lernt aber ein Gedicht dieses kleinen unbekannten Barbarenvolks kennen, er spürt den menschlichen Herzschlag unter der wildfremden Tracht, er interessirt sich für die Serben, schreibt den ergreifenden „Klagegesang von den edeln Frauen des Asan Aga“ und bringt damit die „hinten, weit in der Türkei“ auf einander schlagenden Volksstämme der Phantasie und dem Mitgefühle des deutsche Volkes nahe.

Die Griechen beginnen ihren Unabhängigkeitskampf. Das Philhellenenthum reißt alte, ehrbare Professoren zu Thaten jugendlichster Ueberschwenglichkeit fort. Wilhelm Müller singt seine „Griechenlieder“ und kommt damit einer so weit verbreiteten Volksstimmung entgegen, daß er über Nacht zum berühmten Dichter wird. In allen deutschen Gauen declamirt Jung und Alt „Bobolina, Bobolina, Königin der Meeresfluth“ und „Heil! Heil! Nie wird Thermopylä den Sieg der Sclaven sehn!“ und man hört selbst dann nicht auf, für die Neohellenen zu schwärmen, als Fallmereyer sein unerbittliches Buch geschrieben hat, das alle romantischen und classischen Illusionen über sie zerstören mußte. Der Polenaufstand rief einen neuen Ausbruch deutscher Begeisterung hervor. Mosen besang „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“:

„In Warschau schwuren Tausend auf den Knieen,
Kein Schuß im heiligen Kampfe sei gethan“,

ein Gedicht, das noch heute eins der volksthümlichsten unserer Literatur ist und in keiner Liedersammlung fehlt, und er feierte in einem zweiten Gedichte, „Polonia“, den Heldenmuth einer polnischen Mutter. Platen beweinte „Warschaus Fall“:

„Ihr edlen Schläfer unterm Sand, o laßt den Kampf euch nicht gereun,
Es wird der spätste Pilger einst auf eure Gräber Rosen streun.
Und auch der Dichter eilt herbei, von keiner ird’schen Furcht besiegt,
Wo rings um Warschau hingestreckt die große Hekatombe liegt.
Einst kommen wird ein freies Volk und pflanzen eine Siegstrophä’
Für euch, und ein Simonides besingen dies Thermopylä.“

Im „Vermächtniß der sterbenden Polen an die Deutschen“ („Wir gehn zu Grab erschöpft und laß – Nach manchem kühnen Straus, – Und athmen unsern Russenhaß – In eure Seelen aus“) suchte er ein Band geistiger Verwandtschaft zwischen den besiegten Polen und seinem eigenen Volke zu knüpfen. Lenau’s „Polenflüchtling“ ist das ergreifendste Gemälde tragischer Vaterlandslosigkeit, das sich in irgend einer Literatur findet; namentlich die polnische selbst hat nichts, was sie diesem Gedichte an die Seite stellen kann.

Das Jahr 1848 brachte den Magyarenaufstand, dem der Tag von Vilagos ein blutiges Ende machte. Heine rief da sein „Wenn ich den Namen Ungar hör, – Wird mir mein deutsches Wams zu enge“; Moritz Hartmann widmete Kossuth herrliche Strophen:

„So hat nicht Capistran,
Nicht Irlands Dan gesprochen,
Wie jener blasse Mann,
Von Kerkerpein gebrochen,
Mit blassem Angesicht,
Mit Augen, welche blauen
Im Schatten dunkler Brauen
Gleich Veilchen zarter Frauen –
Wie der zum Volke spricht.“

Die Schweizer streiten im Sonderbundkriege um die Gewissensfreiheit; Georg Herwegh schmettert ihnen die anfeuernden Fanfaren seiner schlachttrompetengleichen Poesie entgegen. Die Irländer werden von den Engländern bedrückt; Ferdinand Freiligrath wirbt mit den rührenden Terzinen der „Irischen Wittwe“ um deutsches Mitleid für sie. Und nicht nur für das fremde Volksleben der Gegenwart, auch für das in der fernen Vergangenheit begeistert sich die deutsche Dichtung und an ihr das deutsche Volk. Derselbe edle Freiligrath setzt in der „Geusenwacht“ dem Unabhängigkeitskampfe der Niederländer ein prächtiges Denkmal. Alfred Meißner findet selbst an den blutigen Hussiten rührende und heroische Züge, und ohne sich bei der Erwägung aufzuhalten, daß sie nicht blos für eine religiöse Idee, sondern auch für ihre czechische Nationalität gegen das Deutschthum gestritten haben, umgiebt er das struppige Haupt des „Ziska“ mit dem Glorienscheine der Halbgötter.

Wo giebt es noch eine poetische Literatur, in der sich so viele und von so großen Dichtern herrührende Zeugnisse der Theilnahme, der Liebe, der Begeisterung für fremde Völker finden? Wir müssen aber gar nicht einmal auf den idealen Höhen der Dichtung verweilen; wir können in die platte, praktische Alltäglichkeit niedersteigen und werden auch da auf Schritt und Tritt den Beweis antreffen, daß das deutsche Volk wie kein zweites ein warmes und offenes Herz für andere Nationen, den Willen und die Fähigkeit, sie zu verstehen, Bewunderung für ihre Vorzüge, Nachsicht mit ihren Schwächen hat. Der einzelne Ausländer ist überall – und in Paris am meisten – eine verdächtige und abstoßende Figur, die Mißtrauen, Geringschätzung und Spott erweckt. In Deutschland allein wird er wie ein vornehmeres Wesen angestaunt, findet man ihn interessant, wird ihm im gesellschaftlichen Verkehr ein gewisses Prestige zuerkannt. Den Verunglückten von Chio, den Ueberschwemmten von Szegedin, den Opfern von Ischia kam Deutschland rascher und reichlicher zu Hülfe, als irgend ein anderes Land, und das in der deutschen schlicht bescheidenen Art, ohne große Worte, ohne Lärm und Selbstberühmen und namentlich ohne das Almosen später den Beschenkten bei jeder Aufwallung übler Laune vorzuhalten. Scenen, wie die Verfolgung der italienischen Arbeiter in Marseille, sind in Deutschland noch nie vorgekommen, und obwohl der deutsche Arbeiter mit der Noth des Lebens hart zu kämpfen hat, ist es ihm noch niemals eingefallen, von seiner Regierung die Nichtzulassung ausländischer Concurrenten zu verlangen, wie es die Pariser Arbeiter in den letzten zwei Jahren dutzendmale gethan haben.

Die deutsche Sympathie für fremde Völker ist um so verdienstlicher, als sie nicht ein gnädiger Lohn für dargebrachte Huldigungen ist. Dem französischen Volke wird von den Nationen, die es „sympathique“ nennt, lange und aufdringlich der Hof gemacht; sie müsse sich erst um seine Huld bewerben, sie müssen sich derselben, durch Complimente, ausdauernde Anschwärmung und treuen Minnedienst würdig erweisen, dann wird sie ihnen vielleicht gewährt. Dem deutschen Volke aber macht Niemand den Hof; Niemand bittet es um seine Sympathie, und wenn es sie in seiner selbstlosen Warmherzigkeit verschenkt, so hält man sich dafür weder zu einer Rücksicht noch zur Dankbarkeit verpflichtet, ja man nimmt kaum Notiz davon. So ist das deutsche Volk geradezu der Toggenburg unter den Nationen, wozu ich es nicht eben beglückwünschen kann. Gewiß, die Gestalt des Toggenburg hat ihre rührende Seite; aber ich fürchte sehr, daß die unfreiwillig komische denn doch überwiegt.




Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Man hatte im Stift Logirstuben. Das Gasthaus des kleinen Ortes war sehr primitiv, und eine oder die andere Mama sah doch immer einmal im Vorüberreisen nach dem Töchterlein. Auch Elsen hatte man eines der Zimmer geöffnet und daneben das schönste dieser bescheidenen Gemächer für Frau von Ratenow gerüstet.

Um neun Uhr sollte der Zug kommen, und die Vorsteherin war selbst an den Bahnhof gegangen, um die gestrenge Tante zu

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_238.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2021)