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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

daß man sich die Mühe nimmt, es kennen zu lernen. Diesen Beweis für seine Landsleute zu erbringen, dürfte dem Pater Didon schwer werden. Dagegen ist es allbekannt, daß es kein Volk auf Erden giebt, welches sich so viel um Wesen und Eigenart fremder Nationen kümmert, wie das deutsche. In England kamen Percy und Andere zuerst auf den Gedanken, die Lieder zu sammeln, die das Volk sang, jedoch wohlgemerkt nur die des eigenen Volkes. Aber der Deutsche Herder war es, der in seiner höhern und selbstlosern Anschauung mit seinem Interesse alle Völker gleichmäßig umfaßte und in seinen „Stimmen der Völker“ alle in ihrer charakteristischen Weise zu Worte kommen ließ.

Allegorische Seitenfigur
aus Röhling’s Composition „Wein, Weib und Gesang“.

Der Gedanke einer Weltliteratur, welche die bedeutendsten Hervorbringungen des Genius aller Culturvölker wie in einem Ehrensaale der gesammten Menschheit vereinigt, keimte im Gehirne des größten Dichters der Deutschen, Goethe’s, wenn es etwa nöthig ist, ihn zu nennen. Das deutsche Volk ist das einzige in Europa, das wahllos alle fremdeu Bücher übersetzt, selbst solche, welche in ihrem Ursprungslande weder Beachtung noch Leser finden. Dieser Drang, das Schriftthum der übrigen Nationen zu kennen, hat uns poetische Uebersetzungen eingetragen, wie sie keine andere Literatur so herrlich und vollkommen besitzt, und durch diese Meisterwerke der Uebertragung ist es uns möglich geworden, die größten Dichter aller Zeiten und Völker, Shakespeare, Dante, Tegnér, Cervantes, Molière, von den alten Classikern nicht zu sprechen, gleichsam als unsere Nationaldichter zu adoptiren. – Allerdings hat das Interesse an den fremden Literaturen auch zu dem Uebelstande geführt, den man drastisch als „Uebersetzungsseuche“ bezeichnen konnte. Immerhin aber ist es eine dem deutschen Volke zur Ehre gereichende Thatsache, daß unsere Literatur weitaus die gastfreundlichste der Welt ist. Wir nehmen Alles freundlich auf, was an unsere Thür klopft; an unserem schlichten Tische wissen wir einen Platz für Alle zu finden, die einen solchen verlangen; wir haben zahlreiche kleine Nationen zu ständigen Clienten, die nur durch unsere Vermittelung aus der sehr beschränkten Oeffentlichkeit, welche ihre unbekannte Sprache ihren literarischen Erzeugnissen gewähren kann, zur wirklichen weltweiten Bekanntheit gelangen. Die meisten skandinavischen, slavischen, magyarischen Schriftsteller werden außerhalb ihrer Heimath nur durch deutsche Uebersetzungen bekannt. In ihrem Nationalcostüm können sie sich nirgends sehen lassen. Wir leihen ihnen das deutsche Kleid und machen sie dadurch in der Versammlung der großen Culturvölker salonfähig. Natürlich könnten wir diese großmüthig selbstlose Vermittlerrolle, für die wir noch nie einen Dank gehabt haben, nicht spielen, wenn wir nicht sprachenkundig wären. Auch in diesem Punkte vermag sich kein anderes Volk mit dem deutschen zu vergleichen. Nirgends kann ein so großer Procentsatz der Bevölkerung fremde Sprachen sprechen oder doch wenigstens lesen, wie in Deutschland.

Das sind, sollte ich meinen, Beweise einer thatkräftigen, ernste Prüfung vertragenden und nicht blos in leeren Phrasen bestehenden Sympathie für fremde Völker. Aber auch mit anderen Beweisen, solchen gemüthlicher Art, können wir in größerer Menge dienen als irgend ein zweites Culturvolk. Unsere Dichter und Schriftsteller haben es immer für ihre heilige Aufgabe gehalten, fremde Volksthaten zu preisen und zu verherrlichen. Ich denke da nicht an Gelegenheitsreimereien, welche irgend ein ausländisches Tagesereigniß sensationeller Natur poetisch glossiren, sondern an Werke unserer besten und vornehmsten Geister, an Dichtungen, die eine weite und tiefe Popularität erlangt und dadurch bewiesen haben, daß sie eine im ganzen deutschen Volke verbreitete vorbestehende Stimmung ausdrückten. Gerade dem französischen Volke ist die deutsche Literatur in Vers und Prosa mehr als gerecht geworden. Seine große Revolution begrüßte Klopstock in einer Ode, Georg Forster in Schriften von flammender Begeisterung. Der hochbegabte frühverstorbene Georg Büchner nahm „Danton’s Tod“ zum Vorwurfe einer großartigen Tragödie, Griepenkerl versuchte seine dichterische Kraft an Robespierre. Napoleon, der doch Deutschland so bitteres Leid zugefügt, wurde

zu einem Heros der deutschen Dichtung, kaum daß die Hochfluth

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_237.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2024)