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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

ertragen können? Wie? – meine christlichen Zuhörer, saget mir das! Und was sie auf Erden als Mutter gewesen ist, das könnet Ihr hier an ihrem Kinde sehen, das seine bitteren Thränen hineinweint in der geliebten Mutter offenes Grab. Mein geliebtes Kind! Zu Deinem Troste will ich Dir die Worte sagen, welche der Herr in seiner Güte und Weisheit verkündiget hat: ‚Es giebt Eines – und das ist schlimmer denn der Tod!‘“

So und so weiter sprach im Untersteiner Friedhofe der hochwürdige Herr Cooperator vor dem Grabe der alten Baslerin und dabei fuhr er bald mit dem rechten, bald mit dem linken, bald auch mit beiden Armen zierlichen Schwunges durch die neblige Schneeluft.

Was er sagte – die Nachbarn und Nachbarinnen der Verblichenen, die das Grab mit Frösteln und Frieren umstanden, glaubten ihm alles auf das Wort, und sie hätten’s ihm noch lieber geglaubt, wenn er’s ein wenig kürzer gemacht hätte.

Eine Einzige aber war da, die hörte ihn gar nicht. Die hielt ihre hängenden Hände verschlungen und schaute mit nickendem Kopfe, mit nassen rothverschwollenen Augen nur immer hinunter auf den schwarzen Fichtensarg mit dem langgestreckten gelben Kreuze. Und wie dann die schneedurchfrorene Erde zu fallen und im Grabe zu häufen sich begann, da war ihr jedes Poltern und jeder Schaufelwurf wie ein Stich und ein Riß im Herzen.

So konnte sie auch nicht gewahren, wie den Friedhof noch ein verspäteter Trauergast betrat. Die Leute, die ihn kommen sahen, betrachteten sein dickverbundenes Gesicht und dachten bei sich, daß heute kein Wetter wäre für Einen, den das Zahnweh plagte. Weiteres zu denken, dazu hatten sie keine Zeit mehr – denn eben sagte der Herr Cooperator sein seufzendes „Amen!“, bekreuzigte sich und verließ, mit hurtigen Fingern die blaue Nase reibend, langen Schrittes die Begräbnißstätte.

Nun traten die Leute zu dem Mädchen und brachten ihre Tröstungen vor, dieselben mit längeren und kürzerem Händedrücken geleitend. Sie schienen alle recht betrübt – in dem Augenblick jedoch, in welchem jeder Einzelne von der weinenden Waise sich abwandte, verflog diese Miene der Trauer, und die Gesichter wurden um so freundlicher, je näher sie dem Kirchhofthore kamen. Jetzt war der Letzte gegangen – nein – seitlich hinter einem dicken Holzkreuz stand noch jener verspätete Trauergast mit dem verbundenen Backen.

Zu Häupten des frischen Grabes ließ sich die Trauernde auf beide Kniee nieder und faltete leise weinend die Hände. Da hörte sie hinter sich einen knisternden Tritt – sie schaute nicht auf, aber in all dem Schmerz und all der Kälte ward es ihr so seltsam leicht und warm um’s bange Herz – nun kniete Einer an ihrer Seite nieder – sie schaute nicht auf, rückte nur ein wenig, damit seine Kniee noch Platz finden möchten auf dem kurzen Brettchen.

Eine Weile beteten sie mit einander – dann suchten sich ihre Hände.

„Ich – ich –“ schluchzte das Mädchen – „ich soll Dich recht schön grüßen noch – von ihr – hat’s g’sagt.“

Er nickte nur – und während er sich mit den Fingern durch die Augen fuhr, hörte sie ihn laut schlucken.

Sie erhoben sich und verließen den Friedhof. Solange die Häuser dauerten, schritten sie wohl auch neben einander her, aber getrennt durch einen schicklichen Zwischenraum – doch schon beim ersten Tritte in die schneebedeckte Wiese faßten sich ihre Hände.

Langsam wanderten sie dahin.

„Wie geht’s Dir denn? Han?“ sagte sie einmal.

„Ich danke Dir schön! Es thut’s – ja, ja – es thut’s schon – – Da!“ Dabei zog er die breite Binde vom Gesichte und hielt dem Mädchen den linken Backen hin, welcher der ganzen Länge nach von einer rothen, noch schlecht vernarbten Schramme durchzogen war.

„Mein – – mein –“ jammerte das Mädchen und strich mit der zitternden Hand über die wunde Stelle. „Geh – thu’ nur g’rad ’s Tüchl wieder drüber – es is gar feindlich kalt.“

„Ja – der Doctor hat’s auch noch net verlaubt, daß ich an d’ Luft geh’ – aber weißt – wie – wie ich gestern g’hört hab’ – daß – da hat’s mich nimmer g’litten – wärst ja sonst allein g’wesen jetzt!“

Sie nickte nur vor sich hin.

„Gelt – der Wimbacher G’hülf wird Dir’s schon g’sagt haben – von wegen –“ begann sie nach einer Weile wieder, „gestern is er da g’wesen bei mir.“

„Ja – schon so verzürnt hab’ ich mich über den – g’rad als ob er gar keine Augen g’habt hätt’!“

„Das arme, arme Viecherl – das! Mein – was muß das ausg’standen haben!“

Jetzt nickte Er statt aller Antwort.

Als sie dann in dem kleinen Häuschen die Wohnstube betraten, die von starkem Weihrauchduft erfüllt war, begann das Mädchen wieder leise zu weinen.

„Sixt –“ sagte sie, nach der offenen Kammer deutend, unter schwerem, langaussetzendem Schluchzen, „– sixt – da – da drin hat’s – g’legen.“

Er nahm den Hut ab und schaute ehrfurchtsvollen Blickes auf das stille Lager.

„G’wiß wahr – es is mir recht hart, daß ich’s nimmer hab’ sehen können. Da bin ich g’rad froh, daß ich’s selbigsmal ’troffen hab’.“

„Ja – und so feindlich gern hat’s Dich ’kriegt. Weißt, wann ich oft so g’jammert hab’ in die letzten Tag’, da hat’s allweil g’sagt: Geh, Nannei, geh – hat’s g’sagt – da brauchst Dich net zum sorgen – der – bald er g’sund is – der kommt schon – der schon!“

Auch ihm wurden nun die Augen feucht.

„Weißt – die hat mich halt gleich derkennt – ja – das war halt Eine! Um die is schad’! Mein – da laufen viel andre – no – ich will kei’m ’was ansagen, aber – geh, Nannei, setz’ Dich doch nieder! Es muß Dir ja jetzt in alle Glieder liegen. Und nachher – nachher habe ich so wie so ’was z’reden mit Dir – weißt –“

Sie gingen auf die Bank zu, rückten dicht an einander – und saßen so eine Zeitlang schweigend.

„Ja – mit meiner Frau Oberförsterin habe ich halt gestern g’redt – weißt – da könntst nachher den Winter über im Dienst sein – bei ihre Kinder - weißt – da hättst es recht gut –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_220.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2020)