Seite:Die Gartenlaube (1884) 219.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Schulter hing ihm die Büchse, und unter jedem Fuße trug er einen dünnen, mit Schnüren übernetzten Holzreif.

Mit starren Augen sah das Thier diesen Menschen näher und näher kommen – und das Zittern, welches ihm die mageren Glieder rüttelte, war nicht ein Zittern im Froste, es war das sichtliche Zeichen von Angst und Entsetzen vor diesem Menschen, den es ja kannte, den es dreimal schon gesehen: einmal am sonnigen Morgen drunten im Wimbachthale, einmal zur Mittagsstunde am Rande jener Schlucht, in deren Tiefe das Thier um dieses Einen willen so qualvolle Stunden hatte durchleben müssen – und ein drittes Mal zu nächtlicher Zeit in seiner Herrin Hütte.

Ueber dem bebenden Thiere lag’s wie ein Bann, der seinen Gliedern jede Bewegung wehrte – und erst, als jener Kommende in einer Mulde verschwand, da sprang es auf mit jähem Satze und arbeitete sich mit dem Aufgebote seiner ganzen müden Kraft dahin durch all den tiefen Schnee.

So kam es auf seiner Flucht in den Sigerethgraben. Hier hielt es lauschend inne. Nichts war zu hören – nur das dumpfe Klatschen der Schneeklumpen, die ab und zu von den dickbeschneiten Felsen über die Wand hernieder fielen. Das Dschapei glaubte sich geborgen. Doch trieb es der fallende Schnee bald wieder aus dem Graben; es kletterte, unter immerwährendem Rutschen und Stürzen, den der Sigerethwand gegenüberliegenden Hang des Rauhenkopfes empor. Hier zwang die Müdigkeit das arme Thier zur Rast.

Noch lag es nicht lange, da sah es den Gefürchteten am Eingange der Schlucht erscheinen und sah ihn herniedersteigen, immer dem Fuße der Felswand folgend.

Zitternd sprang es auf die Füße und begann des Neuen zu flüchten. Da raschelte unter ihm ein Stein – und dieses Geräusch machte jenen Menschen dort unten aufblicken zur Höhe.

„Schau – Du bist noch da? No – Schaffleisch war mir allweil lieber als an alter Gamsbock!“

Mit diesen lachenden Worten hob er die Büchse zum Gesicht.

Es krachte der Schuß – und der von der Kugel getroffene Steinblock sprühte dem verschonten Thiere seine Splitter in das Vlies.

Das Echo rollte – und als wäre die Natur selbst in Zorn gerathen über diese Störung ihres Friedens, so begann in der Höhe der stummen Felsen ein seltsam unheimliches Leben sich zu rühren.

Wohl suchte jener Störenfried in verzweifelten Sätzen dem Graben zu entrinnen – schon aber prasselte, sauste, knatterte, dröhnte und donnerte die Vernichtung hernieder über die Wände – Schnee, Staub, Rasen, Steine und wieder Schnee und Schnee –

Jetzt noch ein leises Grollen und Summen in den Lüften – dann tiefe, regungslose Stille.

Und wo nun war er, der Gefürchtete?

Die Augen des entsetzten Thieres fanden ihn nicht wieder. Lange, lange stand es und schaute hinab in den mit trübem Wust erfüllten Graben. Da rührte sich kein Steinchen mehr, und schwer wie Blei lag der gehäufte Schnee.

Langsamen und unsicheren Ganges mühte das Dschapei sich vollends empor zur Höhe.

Die Nacht kam heute früher, als sie sonst zu kommen pflegte, denn finstere, dicht geballte Wolken zogen von Westen über die Berge einher und verschlossen den abendlichen Himmel.

Wieder begannen die Flocken zu fallen, dichter und dichter – und ein schneidender Wind umfuhr mit gellenden Lauten die Felsen und Schroffen.

Die Nacht war da – solch eine Nacht – und noch hatte das verlassene Thier kein Lager gefunden. Es tappte nur immer so zu, ohne zu sehen, wohin seine Schritte führten. Hier brach es mit den Füßen in eine Steinschrunde – dort stürzte es über einen niederen Hang – und wo es stehen blieb zu kurzer Rast, da blies ihm der Wind den starrenden Frost in alle Glieder.

Müder und müder wurde sein Gang, schlaffer und schlaffer seine Kraft, so daß es kaum mehr im Stande war, den Kopf erhoben zu tragen.

Ein Zufall führte seinen Weg zur Almenhütte. Hier meinte es eine Ruhestatt zu finden – und eben hier war seines Bleibens weniger als sonst an einer Stelle; johlend umkreiste der Sturmwind die nachtschwarzen Holzwände, den Schnee aufpeitschend zu wirbelnden Wolken.

Wieder schlich das Thier von dannen – und dieses Vorwärtskommen war kein Gehen – es war ein Fallen und Fallen, und dabei blieb es auch manchmal eine Weile liegen und ließ sich vom Schnee verwehen.

Als es einmal langsam unter sich den Boden weichen fühlte, that es kaum eine Bewegung, um sich zu halten. Gehüllt in eine stäubende Masse, stürzte das Thier in kollerndem Falle dem Thale zu – hier aufschlagend – und hier – nun lag es, gepreßt und gequetscht – und bei jedem Athemzuge fuhr ihm der scharfe kalte Schnee in die Nasenlöcher.

So verblieb es eine lange, lange Weile; dann fing es an, den Hals zu rühren und mit den Füßen zu stoßen. Leichter und leichter ward die weiße Decke über ihm – endlich theilte sie sich – und das Dschapei sah empor an einer schiefen Felswand, sah über sich den morgendämmerigen Himmel und sah vor seinen Füßen flach und weitgestreckt das überschneite Griesthal.

Den ganzen Rest seiner Kraft verbrauchte nun das Thier, um den halb erstarrten Leib aus seiner kalten, drückenden Umhüllung los zu winden – vergebens.

Als ihm die Kräfte dann versiegten, als seine Glieder, zerschunden und erstarrt, keiner Bewegung mehr fähig waren, da ließ das arme Dschapei seinen Kopf zur Seite sinken, sodaß es kaum noch mit dem einen Auge hinweg schauen konnte über den Schnee und über das von schütteren, nun weiß bedeckten Büschen bewachsene Thal.

Lichter und lichter hob sich der Morgen – und aus dem schneeverhüllten Grunde kam ein Glitzern und Funkeln, das dem Dschapei fast den Blick erblendete.

Und dennoch sah es fern in den Büschen jenes sachte Regen und Leben, welches langsam näher und näher kam – sich nun herauswand aus den überschneiten Zweigen auf den freien Grund – ein röthliches Thier – schlankleibig und mit spitzem Kopfe – halb wie ein Hund und halb wie eine Katze – mit dichtbehaartem Schweife die Spuren seiner Tritte hinter sich verwischend –

Nun hob der Schleicher witternd seine Nase – nun zog es ihn näher und näher – nun stand er vor dem Dschapei, mit geiferig klaffenden Zähnen, mit mordlust-funkelnden Augen – schon duckte er sich zum Sprunge –

Da schob sich zwischen den Büschen lautlos die Gestalt des Wimbachjägers hervor, der lächelnd seine Büchse hob.

Nur blitzen sah das Dschapei noch den Schuß – den Hall und Widerhall vernahm es nicht mehr – da lag ihm mit gebrochenen Augen schon der blutende Kopf am Schnee – – in langen Sätzen aber sprang der Räuber, dem das tödtliche Blei gegolten, zwischen die schützenden Felsen.




10.

„Allezeit ist sie eine in der Furcht Gottes lebende Frau gewesen! Denn wie auch sonst wäre es zu erklären, daß sie alle die harten Prüfungen, mit welchen die liebevolle Hand des Allerhöchsten sie bedachte, so geduldigen und standhaften Herzens hätte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_219.jpg&oldid=- (Version vom 14.6.2021)