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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

sah immer und immer wieder das verfärbte Antlitz des sterbenden Vaters, sie fühlte das ängstliche Tasten nach ihrer Hand und wie sich die Kette um diese schloß, diese unsichtbare entsetzliche Kette, die sie ihr Leben lang tragen sollte. War es nicht mehr als grausam, die heilige Macht der Todesstunde, die zwingende Gewalt eines letzten Willens zu benutzen, um ein Menschenherz unglücklich zu machen zeitlebens? „Vater, Du hast mich nicht lieb gehabt!“ stöhnte sie auf. Und dann sah sie wieder das glückliche Lächeln, als er ihre Hände in einander gefügt, den letzten, ach so leichten Athemzug, als sei die arme Brust von einer schweren Last befreit; er starb zufrieden, er starb ruhig – und sie mußte leben, leben! Es war entsetzlich!

Noch hatte sie den nicht wiedergesehen, in dessen Hand der Vater ihre Rechte gelegt; und Frau von Ratenow hatte nicht weiter in sie gedrungen. Sie vertrug sich nicht wohl, diese tiefe stumme Trauer, mit dem bräutlichen Glück. Aber nun vom Begräbniß zurückgekehrt, hatte der Bräutigam doch Verlangen mit der zu sprechen, die ihm anvertraut war in jener ernsten Stunde.

Frau von Ratenow, ebenfalls in tiefer Trauer, stieg die Treppen empor, um Else diesen gewichtigen Besuch zu verkünden. Sie hielt ein paar Zweiglein Cypressen in der Hand, die hatte der Bennewitzer vom Sarge genommen, ehe man ihn hinabgesenkt – ein letzter Gruß für die Tochter.

Die stattliche Frau klopfte weniger resolut als sonst an die Thür und trat dann ein. Else saß am Tische und hatte Schreibpapier vor sich liegen und die Feder; nun schob sie den angefangenen Brief in die Mappe und erhob sich. Frau von Ratenow drückte den Cypressenzweig in die kleine Hand und strich über die blasse Wange.

„Hegebach läßt Dich grüßen; er meint, es würde Dir ein Bedürfniß sein, mit ihm vereint an das Grab zu treten; der Wagen wartet noch angespannt, Else. Willst Du Dich zurecht machen? Er wird Dich abholen hier oben.“

Bei den Worten „mit ihm vereint“ zuckte sie zusammen, und eine dunkle Röthe überzog einen Moment das bleiche Gesicht. Sie antwortete nicht, aber sie schüttelte leise den blonden Kopf.

„Warum hast Du alle Rouleaux hernieder gelassen,“ fragte die alte Dame, „als ob Gottes Sonne etwas Entsetzliches wäre?“ Und sie zog die Vorhänge aus einander, daß blendendes Sonnenlicht hereinströmte und sich um das Mädchenhaupt wob wie ein Heiligenschein. Sie mußte die Augen schließen, so unbarmherzig hell schossen die Strahlen herein.

„Sieh hinaus, Else!“ Frau von Ratenow faßte sie an der Hand und zog sie zum Fenster. „Schau, wie die Knospen springen an den Apfelbäumen, und wie blau der Himmel ist! Man soll die Todten ehren, Kind, aber der Lebendigen nicht darüber vergessen, und Du hast Pflichten gegen das Leben, fasse Dein Herz in die Hand!“

Das Mädchen hob nicht den Blick, sie war womöglich noch blasser geworden.

„Ich gehe nun hinunter, Else, ich habe noch ein paar Worte mit Frieda zu reden; von neulich her. Derweilen schicke ich Dir Deinen Bräutigam herauf. In solchen Tagen tritt die Etiquette in den Hintergrund, und zudem ist er kein junger Fant. Wenn Ihr zurück kommt vom Kirchhofe, so trinkt Ihr eine Tasse Kaffee bei mir. Gott befohlen, Else.“

Sie war gegangen. Wie im wilden Schmerz griff das Mädchen an die Stirn und krallte die kleine Hand in das blonde weiche Haar. Gab es denn keinen Ausweg mehr? Ihre Augen flogen fast entsetzt durch das Zimmer; nun sollte sie ein Versprechen einlösen, dem ihr Herz so fremd gegenüber stand! Ach, frei sein, frei sein nur noch einmal! Es war so entsetzlich zu wissen, daß jeder solcher Gedanke eine Sünde. Ganz mechanisch nahm sie das zierliche schwarze Mantelet um und setzte das Trauerhütchen auf. Dann sanken die Hände, die die Schleife binden wollten, schlaff hernieder – dort auf der Schwelle. – –

„Onkel!“ stammelte sie.

Er war herüber geschritten zu ihr und hatte ihre beiden Hände in die seinen genommen; nun zog er sie an die Lippen.

„Meine theure Else,“ sagte er weich, „es war eine schwere Stunde, in der wir uns gefunden, aber eine ernste und heilige zugleich, die Bürgschaft für eine Zukunft im treuen und herzlichen Zusammenleben.“

Er sprach warm, aber es klang dennoch steif, was er sagte, fast pedantisch. Es war, als höbe sich die Brust des Mädchens wie erleichtert, aber sie schwieg.

„Ist es Dir recht, Else, wenn wir jetzt zusammen das Grab Deines Papa’s besuchen?“

Sie nickte. Er nahm den Sonnenschirm vom Tisch und reichte ihr denselben, und dann bot er ihr den Arm; sie legte kaum fühlbar die Hand hinein, so verließen sie das Zimmer und schritten die Treppe hinunter, durch den Flur bis zum Wagen. Er hob sie hinein in die schwellenden Kissen aus weicher silberfarbiger Seide und breitete sorglich die köstliche Decke über ihre Kniee. Sie hatte die Augen noch nicht aufgeschlagen, jetzt, im raschen Vorüberfahren, hob sie den Blick; Frau von Ratenow stand am Fenster und winkte mit der Hand.

Ein unsäglich elendes Gefühl kam über das Mädchen, als sie so dahin rollte in dem eleganten Fuhrwerk; wie verkauft, wie ihrer selbst nicht würdig kam sie sich vor, und mit einer raschen Bewegung zog sie den Crêpschleier vor das Gesicht; es war ihr als schäme sie sich, daß die helle klare Frühlingssonne ihr in die Augen scheine.

Sie bemerkte nicht den dargebotenen Arm beim Eingang des Kirchhofes, sie schritt hastig vorwärts.

„Wo willst Du hin, Else?“ fragte er, „das Grab ist auf dieser Seite.“

Aber sie war schon an einem andern Hügel niedergesunken und hielt die Hände in einander gerungen, wie im verzweifelten Gebet. Wenn sie noch lebte, dann – eine Mutter kann ihr Kind nicht hineinstoßen in ein liebeleeres Leben, nein, niemals!

Er stand abseit, ruhig wartend. Es dauerte lange, bis sie sich erhob, sich umwandte und ihm folgte zu dem frischen Hügel, an dem noch die Erdschollen unordentlich lagen, ein trauriger Anblick, den man unter zahllosen Kränzen zu verbergen gesucht hatte.

Sie verharrte auch hier ohne ein Wort, ohne eine Thräne; er faßte nach ihrer Hand, sie entzog sie ihm leise.

„Wollen wir fahren?“ fragte er nach einer Viertelstunde tiefen Schweigens. Sie bejahte und schritt wieder rasch voran durch die schmalen Wege zwischen den Gräberreihen. Am Wagen zögerte sie, sie wäre viel lieber gegangen. Er bot ihr schweigend die Hand zum Einsteigen und setzte sich schweigend neben sie. – Er wußte, was es heißt, von einem frischen Grabe heimzukehren, er fand ihr düsteres Wesen nur zu begreiflich; sie hatte überhaupt etwas Scheues, Ernstes, zuweilen sogar Herbes. Sie sollten erst wieder lachen lernen, die braunen Kinderaugen, wenn sie nicht mehr auf Noth und Sorge zu blicken brauchten, wenn das berauschende Parfüm eines sorglosen, sonnenhellen Daseins um die blasse Stirn wehte in den behaglichen Räumen auf Bennewitz und in dem köstlichen Park. Sie würde es wieder finden, das Lächeln, auf den Reisen; Paris wollte er ihr zeigen zu allernächst, sie war doch eben auch nur ein sterbliches Mädchen, und Paris - nun Paris, das ist ein undefinirbar verlockendes Wort für ein Frauenohr.

Sie hatte wieder das Gesicht in den Schleier gehüllt und sah nicht rechts noch links. Vor der Reitbahn, an der sie hinfuhren, standen Lieutenant von Rost und der Rittmeister von H. Sie grüßten tief und blickten dem Gefährt nach und dem schwarzen Schleier, der einen Moment durch das Fenster des Wagens flatterte.

„Noch hat sie es nicht gelernt,“ sagte Rost, „wie eine grande dame in den Polstern zu liegen; sie saß wie ein gescholtenes Kind auf der Schulbank. Na, lange wird’s nicht dauern, die Weiber haben ein unglaubliches Geschick für so etwas.“

„Glauben Sie, daß es von ihrer Seite Passion ist?“ fragte von H.

„Pah!“ machte Rost und sah seinem Pferde entgegen, das eben der Bursche heranführte.




Frau von Ratenow war indessen wirklich bei Frieda gewesen; die Laune der jungen Frau schien so unverbesserlich wie ein Landregen, der am Siebenschläfer fällt. Sie hatte kaum ein Wort der Theilnahme gehabt für die Verwaiste. Lili war einmal hinauf gekommen mit dem Vorsatz, sehr kühl zu condoliren; aber dem abgehärmten stillen Mädchen gegenüber war ihr gutes flatterhaftes

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