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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Conservendosen 3 Franken, weißes Glas 6 Franken, grünes (Flaschen-)Glas 1,20 Franken. Die Industrie hat für all diese als unnütz weggeworfenen Abfälle Verwendung. Die Knochen werden zu Mehl vermahlen und als Dünger verkauft oder zu Kohle verbrannt; aus den Papierlumpen wird neues Papier bereitet; die Schafwolllappen dienen zur Verfertigung billiger und natürlich auch nicht sehr dauerhafter sogenannter „Shoddy“-Tuche; von den Blechdosen, in welchen Sardinen u. dergl. verkauft werden, lebt eine ganze, recht interessante Industrie, deren Erzeugnisse so billig abgegeben werden müssen, daß sie ihren Rohstoff, das Eisenblech, unmöglich vom Blechwalzer selbst beziehen könnte, nämlich die Fabrikation von Metallsoldaten, welche mittels einfacher Maschinen aus den Blechdosen ausgestanzt werden; und die Glasscherben kehren in Gestalt neuer Glaswaaren auf unseren Tisch zurück.

Das Lumpensammeln ist zwar eine freie Kunst, aber seine Adepten haben doch ein festes Zunftgefüge, welches sogar Rangabstufungen zuläßt. Zu unterst stehen die „biffins“ oder „chineurs“, halb Dilettanten, halb Desperados, Leute, die tagüber etwas Anderes treiben, mit einbrechender Nacht aber zum Stöberhaken greifen und auf’s Geratewohl vor sich hin wandernd ihr Glück versuchen. Sie sind von ihren Genossen höherer Ordnung scheel angesehen, weil sie das Herkommen der Zunft nicht kennen oder nicht achten, in die Vorrechte Anderer eingreifen und überhaupt im wohlgeregelten Getriebe der ehrsamen Körperschaft das Element der Pfuscher und Störer darstellen.

Der Kofferflicker in Nöthen.
Nach dem Oelgemälde von H. König.


Respectabler sind die „rouleurs“, Lumpensammler von Beruf, von denen jeder seinen bestimmten Straßenbezirk ausbeutet, ohne seinen Cameraden in’s Gehege zu streichen, wogegen er dieselbe Rücksicht für sich und sein eigenes Revier erwartest. Auf der höchsten Sprosse der Rangleiter stehen die „placiers“. Dieselben gelten als die Aristokraten der Brüderschaft. Sie haben das Privilegium, im Kehricht zu stöbern, ehe er noch auf die Straße geworfen wird. Sie dürfen in die Häuser selbst eintreten und da in aller Ruhe arbeiten. Der Concierge kennt sie und steht mit ihnen auf dem Fuße wohlwollender Herablassung. Ein jeder „Placier“ sucht 10 bis 30 Häuser ab und macht sich den Concierges für ihre Duldung durch kleine Dienstleistungen z. B. Wassertragen, nützlich. Die Stelle eines Placier hat einen gewissen Werth, namentlich in den reichen Stadtvierteln; gedenkt er, sich von den Geschäften zurückzuziehen, so verkauft er sie einem Nachfolger, den er an einem Sonntage, ganz sauber gekleidet, den Concierges seines Reviers in aller Form vorstellt und ihrem Wohlwollen empfiehlt. Man versichert, daß einzelne Placiers für ihre Stelle bis zu 1000 Franken bekommen haben.

Das sind die verschiedenen Kategorien der eigentlichen Lumpensammler, die persönlich auf Beute ausgehen. Außerdem giebt es aber Unternehmer, welche ihnen ihre Sammelfrüchte abkaufen, dieselben durch Tagelöhner sortiren lassen und nach Gattungen geordnet in großen Posten weiter verkaufen. Solcher Unternehmer zählt man etwa 100, darunter vier oder fünf, die mit Millionen arbeiten, und Alle gelangen sehr rasch zu Wohlstand, in vielen Fällen zu großem Reichthume. Seit dem Jahre 1868 tritt bei jeder Municipalrath- und Abgeordnetenwahl in Paris ein Herr Berton als Candidat auf. Er ist die lustige Person aller Pariser Wählen. Er nennt sich den „Menschheitscandidaten“, „le candidat humain“. Seine Ansprachen an die Wähler sind auf rosenfarbigem Papiere gedruckt und mit seinem wohlgetroffenen Ebenbilde in Holzschnitt geziert. Er verspricht gewöhnlich in apokalyptischem Stile die Beglückung der ganzen Menschheit, und in erster Linie der Pariser, und erklärt den Wählern, sie seien es der Civilisation schuldig, ihm ein Mandat anzuvertrauen. Nun denn, dieser Herr Berton war ein Lumpenhändler, der sich nach zwanzigjähriger Thätigkeit in noch jungen Jahren mit einer Rente von 60,000 Franken zur Ruhe gesetzt und dem die Arbeit der „rouleurs“ und „placiers“ die Muße geschaffen hat, auf die Beglückung des Menschengeschlechts zu sinnen.

Die Lumpensammler hausen in bestimmten Straßen, welche dann keine andere Bevölkerung enthalten. Die bekannteste unter diesen Straßen ist die Rue Moussetard am linken Seine-Ufer, doch giebt es auch in Montrouge im Süden und in Montmartre und La Villette im Norden starke Lumpensammlercolonien. Ihre Wohnstätten sehen wie Lager wandernder Zigeuner aus. Auf einem unbedeutenden Grunde, den sie entweder vom Eigenthümer oder einer Mittelsperson miethen, errichten sie sich eine an Wigwams oder Kibitken erinnernde Hütte aus den wunderlichsten Bestandtheilen. Die Wände sind aus Lehm gestampft oder wie in den Pfahlbauten der Schweizer Seen aus Weidenruthen geflochten und mit Erde beworfen. Oft vertritt ein Wagenrad, Speichen mit geöltem Papiere beklebt sind, das Fenster. Als Dach dient eine Theerdecke, im besten Falle stückweise zusammengeschleppte Dachpappe. Einzelne Gebäüde sind freilich auch aus Backsteinen, Gyps und Holzsparren aufgeführt, aber diese beherbergen nur die Reichsten und Glücklichsten des Handwerks. Große Reinlichkeit herrscht in diesen Niederlassungen natürlich nicht; das ist schon durch die Vorräthe an „Waare“ ausgeschlossen, die in und vor den Hütten bis zum Verkaufe aufgestapelt sind; in ihrer leiblichen Erscheinung sind jedoch die Lumpensammler weniger schmutzig, als man glauben sollte, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_164.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2020)