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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Sind schon hierin alle Bedingungen zur Erzeugung einer Hochfluth gegeben, so wird dieselbe wesentlich noch unterstützt durch den Charakter und die eigenthümliche Formation der Landschaft. Die hochgelegenen Quellgebiete der meisten Nebenflüsse des Mississippi sind entweder nur spärlich bewaldet, wie das Felsengebirge, ganz baumlos, wie die Prairie, oder stark abgeholzt, wie die Gebiete der Alleghanys. Darum vermögen die wenig bewachsenen Gebirge die Wassermassen nur wenig zu halten, und der thonige, lehmige und sandige Boden der Prairien ist es noch weniger im Stande, zumal dieselben durch die vielfachen heftigen Regengüsse mit zahllosen, während des Sommers meist ausgetrockneten tiefen Rinnen durchschnitten sind, die namentlich auf der höheren Prairie sehr regelmäßig gestaltet und äußerst zahlreich sind.

Diese Rinnen, Schluchten und Engpässe ergießen die in denselben angesammelten Wassermassen fast auf einmal in das Hauptsystem, und die Bäche werden mit einem Schlage zu Strömen, die Ströme zu kochenden Fluthen, die erfüllt sind mit abgespülten Erdmassen, keinen bestimmten Lauf innehalten, meilenweite Thäler überschwemmen und an einem Punkte ganze Landstücke wegreißen, um an andrer Stelle kolossale, langgestreckte Sandbänke und Inseln aufzuthürmen. Die Verheerungen, welche durch solche wilde Hochfluthen angerichtet werden, sind kolossal; entwurzelte Bäume, Uferfetzen, Planken, Zäune, Mühlen und Häuser werden von den Wassern davongetragen, ja es sind Beispiele genug vorhanden, daß die Bewohner ganzer Dörfer und Städte sich gezwungen sahen, Hals über Kopf ihre in der Nähe des Flußufers gelegenen Heimstätten an beständigere und weniger wandelbare Orte zu verlegen. So meldet eine New-Yorker Depesche vom 15. Februar dieses Jahres, daß durch die gegenwärtigen Hochfluthen des Ohio in Lawrenceburg vier Straßenviertel weggerissen wurden. In Folge der Fluthen sind Tausende von Menschen in Cincinnati, Madison, Wheeling und anderen Orten obdachlos!

Haben die Hochfluthen des Missouri und Ohio den Charakter des Wilden, Stürmischen, Dämonischen, so tragen die Hochwasser des unteren Mississippi, nachdem die beiden obigen Ströme sich in ihn ergossen, den des Ruhigen, Majestätischen.

Der untere Mississippi ist zu groß, zu weit und zu tief, als daß er gleich einem Bergstrome dahinstürzen könnte, und so schwellen sogar die ungeheuren Fluthen der Nebenflüsse ihn selbst nur langsam und allmählich an. Ein ausgedehntes System von hohen Uferdämmen – sogenannte „levees“ – verhindert das Austreten des Flusses, und ist der Wasserstand desselben zur Zeit der Hochfluthen, ähnlich wie bei den Canälen Hollands, einige Fuß höher als das Land zu beiden Seiten.

Bei aller Kostspieligkeit ihrer Anlage haben sich diese Dämme einer wirklichen Hochfluth gegenüber doch als nicht ausreichend erwiesen. So brach zuletzt im Februar des Jahres 1882 eine Katastrophe über die Staaten am unteren Mississippi herein, an deren Folgen diese Länderstriche noch lange kranken werden. Anhaltende Regengüsse hatten die Schneemassen des Nordens zum Schmelzen gebracht, und der untere Mississippi begann, angeschwellt durch seine mächtigen Nebenflüsse, in der zweiten Hälfte des Februar zu steigen. Ruhig, allmählich schwollen die Wasser an, und ebenso ruhig gaben die Dämme dem ungeheuren Drucke nach, worauf sich mit Brausen die Fluthen weit in’s Land hinein ergossen. Alle Rettung für die Bewohner des Landes und für ihr Hab und Gut war dahin. So weit das Auge reichen mochte, schweifte der Blick über eine endlose Wasserwüste. Gegen 68,000 englische Quadratmeilen waren überschwemmt, die Wasser erstreckten sich bis auf 45 englische Meilen weit in’s Land hinein, ja bei Hales Point, in Tennessee, hatte sich der Fluß 75 englische Meilen weit ausgebreitet und unzählige Häuser, alles Vieh und die Ergebnisse der letzten Ernten hinweggeschwemmt und vernichtet; auf Dächern und Bäumen mußten die Heimathlosen Zuflucht suchen und konnten erst nach tagelangen schrecklichen Leiden aus ihrer entsetzlichen Lage befreit werden.

In einem Falle hatte sich eine Anzahl von circa 100 Menschen mit ihrem Vieh auf einen schmalen Streifen Landes geflüchtet. Als aber die Wasser fortfuhren zu steigen, sahen die Unglücklichen sich gezwungen, ihr eignes Vieh zu tödten und in’s Wasser zu stoßen, nur um Raum für sich selbst auf dem kleiner und kleiner werdenden Eilande zu gewinnen. Das Elend war entsetzlich. Alle Plantagen waren vernichtet, an 100,000 Menschen obdachlos und ohne Nahrung.

Nicht weniger verderblich äußerte sich im Februar des vergangenen Jahres die Hochfluth des Ohio, dessen geringster Wasserstand bei Cincinnati 18 Zoll, bei gewöhnlicher Fluth 40 bis 50 Fuß beträgt. Diesmal erreichte aber der Strom die Höhe von über 66 Fuß, setzte einen großen Theil der Stadt unter Wasser und richtete gewaltigen Schaden an. Bedeutende Verheerungen verursachte die Hochfluth auch bei Louisville, wo am 12. Februar innerhalb einer halben Stunde 35 Straßenviertel bis 30 Fuß hoch mit Wasser bedeckt wurden.

Viel gefährlicher noch als diese hier geschilderten Hochfluthen sind die Ueberschwemmungen, die, durch Wolkenbrüche verursacht, plötzlich hereinbrechen und den Menschen ganz unvorbereitet treffen. Dieses plötzliche Anschwellen der Flüsse ereignet sich namentlich häufig in den Gebieten westlich vom Mississippi und Missouri.

Von einer solchen Fluth wurde am 1. August 1882 Cincinnati heimgesucht. Bei dem Orte Millesburg in Kentuky war ein Wolkenbruch niedergegangen, der hunderte von Aeckern verwüstete, alles Getreide wegspülte und eine Kohlenmine so mit Wasser füllte, daß die Bergleute nur mit knapper Noth das Leben retteten. Der Regenguß dauerte nur drei Stunden, doch betrug die Menge des gefallenen Regens einen Fuß. Diese Wassermassen stürzten sich in den kleinen Licking River und gelangten so in den Ohio, diesen mächtigen Strom um volle 10 Fuß anschwellend und durch das ganz unerwartete Eintreffen großen Schaden verursachend.

Kaum hatte Cincinnati sich von diesen Schrecken erholt, so ereignete sich wenige Monate später die bereits erwähnte Hochfluth des Februar 1883, und daß sich dieses grause Schauspiel jetzt, nach gerade einem Jahre, auf’s Neue und in derselben schrecklichen Weise wiederholt hat, ist durch die aus Amerika mitgetheilten Telegramme sattsam bekannt.

Cincinnati während der Hochfluth des Jahres 1883.0 Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_162.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2024)