Seite:Die Gartenlaube (1884) 160.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die Hochfluthen des Mississippi-Gebietes.

Ein Beitrag zu ihrer Erklärung von Rudolf Cronau.

Noch sind die Wunden, die der Winter des vergangenen Jahres den Staaten Ohio, Indiana und Kentucky durch seine Hochwasser geschlagen, nicht vernarbt, und schon meldet der Telegraph das Einbrechen neuer ungeheurer Fluthen auf die Werke der Menschenhand, mit wenig Worten verkündend, daß wiederum Tausende von Menschen ihrer Habe verlustig und obdachlose, hungernde, arme Bettler geworden sind.

Wie all dieses Unheil mit einem Schlage gekommen, verrathen die wortkargen Depeschen nicht, und so möge es mir gestattet sein, durch Entrollung eines amerikanischen Flußbildes das dürftige Telegramm zu ergänzen und die Momente darzulegen, durch deren Zusammenwirken das Entstehen so großer und verheerender Fluthen überhaupt ermöglicht wird.

Fern im Nordwesten der Vereinigten Staaten, beim Oertchen Gallatin in Montana, treffen drei Flüßchen zusammen, die, alle drei von ziemlich gleicher Länge, nach ihrer Vereinigung einen der gewaltigsten Ströme der Erde bilden, den Missouri. Behält derselbe zunächst den Charakter eines schäumenden Gebirgsflusses bei, so breitet er sich bald zu einem gleichmäßig dahinrollenden inselerfüllten Strome aus, den senkrechte Klippen um 1000 Fuß überragen. Cedern, Kiefern und Fichten kleiden die Höhen, auf deren unzugänglich scheinenden Gipfeln Heerden von Bergschafen klettern.

Für nahezu sechs Meilen erheben sich diese schwarzen Felsmassen zu beiden Seiten des Flusses, eine wenig mehr als 150 Yards breite Kluft bildend, durch welche die tollen Wildwasser gleich einem Katarakte stürzen. Das ist die berühmte Passage des Missouri durch die Felsengebirge.

Nicht minder großartig sind die Wasserfälle des Missouri, 2575 englische Meilen von seiner Mündung zwischen dem Orte Helena und dem Fort Benton gelegen. 352 Fuß fällt hier der Strom auf einer Strecke von einer Stunde und bildet eine ununterbrochene Reihe von Stromschnellen und Katarakten, von denen der große Fall (vergl. Abbildung) gegen 90, der Cascadenfall gegen 47, ein dritter 60, ein vierter gegen 27 Fuß messen.

Was das Aussehen und den Charakter des Flusses betrifft, so ist derselbe völlig verschieden von allen europäischen Strömen und findet getreue Copien nur in den anderen Zuflüssen des Mississippi und in seinen eigenen mehr oder minder großen Nebenzweigen.

Bei Fort Benton in Montana, einer jener Militärstationen, die Anfangs dieses Jahrhunderts zum Schutze des Tauschhandels mit den Indianern im Charakter der auf unserer Vignette gegebenen Darstellung angelegt wurden, wird der Missouri schiffbar.

Aber auch hier ist er gleich allen anderen Prairieströmen in seinem Laufe unbeständig. Aufnahmen und Stromkarten jüngsten Datums bieten keine Gewähr, daß der Hauptcanal auch noch heute da zu finden ist, wo er gestern gewesen, und unerfahrene, mit der Natur des Flusses wenig vertraute Ansiedler haben nicht selten zu ihrem Schrecken bemerkt, daß Acker nach Acker ihrer an den Uferbänken des Flusses gelegenen Farmen von den ruhelosen Wassern des mächtigen Stromes weggewaschen wurden.

Fast alle Zweige dieses gewaltigen Stromsystems führen, namentlich zur Zeit der Hochfluthen, Ende April bis Juli, schier unglaubliche Massen von Sand und Schlamm mit sich, die, in dem Wasser vollkommen aufgelöst, dasselbe gänzlich undurchsichtig machen und ihm eine Farbe und Beschaffenheit verleihen, die dem Flusse den treffenden Namen „big muddy“, „der große Schlamm“, eingetragen. „Zu dick ist der Fluß, um darinnen zu schwimmen; zu dünn, um darauf zu gehen,“ sagt der Amerikaner, und wahrlich, man muß diese fließende Lehmfluth gesehen haben, um das Zutreffende dieses Ausdruckes begreifen zu können.

Bei niederem Wasserstande, im Herbste, bietet darum der Missouri gerade kein imposantes Strombild, aber zur Zeit der Hochfluthen ist das Schauspiel ein ganz anderes, gewaltiges. Der Missouri trägt dann den Charakter der übrigen Flüsse, die in den gewaltigen Mississippi münden und die, mit Ausnahme vielleicht des oberen waldentsprossenen Mississippi selbst, echte Prairieströme sind und in ihrer Erscheinung ungemein viel Aehnliches haben.

Wollen wir einen Versuch machen, ein Bild von dem Entstehen einer Hochfluth in jenen Ländern zu geben, so haben wir zunächst zu bemerken, daß der Winter in den nördlichen und namentlich in den nordwestlichen Theilen der Union lang und streng ist.

Sind Flüsse, Seen und Bäche zu Eis erstarrt, so sind über der Landschaft kolossale Schneemassen aufgehäuft, die in besonders strengen Wintern mitunter fabelhafte Dimensionen erreichen. So lag im Winter 1880 auf 1881, der sich mit seinen gegen 60 schweren Schneestürmen für immer denkwürdig in die Chroniken des amerikanischen Nordwestens eingeschrieben, der Schnee 5 bis 15 und 20 Fuß hoch, ja einige Schneewellen erreichten sogar eine Höhe von über 50 Fuß.

Die Witterung in Amerika liebt die schroffsten Gegensätze. Ein Frühling in unserem Sinne ist nicht bekannt, fast ohne Vermittelung reicht der eisige Winter dem glühenden Sommer die Hand. Plötzlich kommt die Hitze hereingebrochen, wie ein Regen von Feuerstrahlen, und bringt die ungeheuren Schneemassen riesig schnell zum Schmelzen, welcher Proceß durch den Niedergang mächtiger Regengüsse vielfach beschleunigt wird.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_160.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)