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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

ertragen werden müsse. Daher erregte es in der öffentlichen Meinung einen so großen Jubel, in den höfischen Kreisen aber eine so schlecht verhehlte Mißempfindung, als Friedrich der Große und seinem Beispiele folgend Joseph II. öffentlich erklärten, daß sie das Verhältniß zu ihren Völkern ganz anders auffaßten, als die meisten ihrer fürstlichen Zeitgenossen, als sie anerkannten, daß der Fürst nicht blos Rechte, sondern vor Allem Pflichten habe, als sie sich „Diener des Staats“ und „Verwalter des Volkes“ nannten. Welch trauriges Armuthszeugniß war es doch für jene ganze Zeit, daß man es als einen besonderen Vorzug der Regierung Friedrich’s II. rühmen mußte: „es gebe Richter in Berlin“, das heißt unabhängige und unparteiische Richter, welche nöthigenfalls auch gegen Mächtige und Vornehme die Unschuld in Schutz nähmen! Wie „patriarchalisch“ ging es doch zu in jenen vielen deutschen Ländern, wo mißliebige Persönlichkeiten durch einen einzigen Federzug des Fürsten auf die Festung geschickt und – ohne Urtel und Recht – zu vieljähriger, wohl gar lebenslänglicher Kerkerhaft verdammt wurden! Wie „patriarchalisch“, wenn Landesväter ihre Landeskinder als Kanonenfutter an die Engländer verkauften, um die aufstrebende Freiheit der nordamerikanischen Colonien zu ertödten! Wie „patriarchalisch“, wenn der Despotismus solcher kleinen Tyrannen womöglich noch überboten ward von dem Despotismns eines weithin gebietenden Präsidenten oder Amtmanns, wie das Schiller in „Kabale und Liebe“, Iffland in seinen „Jägern“ mit grellen, aber leider nur zu wahren Farben geschildert haben!

Und selbst bei den besten Absichten, ja trotz eifriger Anstrengungen einzelner wohlwollender Regenten war und blieb der ganze damalige Gesellschaftszustand mit einem schweren Makel behaftet, mit dem Makel der persönlichen und wirthschaftlichen Unfreiheit des zahlreichsten Bestandtheils der Bevölkerung, des ganzen ehrenwerthen Bauernstandes. Wahrhaftig, wenn nichts Anderes unserem Jahrhundert ein Anrecht verliehe, auf den Namen eines vorgeschrittenen gegenüber früheren Jahrhunderten, schon dieses Eine würde dazu genügen: die Befreiung der kleinen ländlichen Bevölkerung von den Fesseln und Lasten des Feudalunwesens und die Herstellung einer allgemeinen Gleichheit der Stände vor dem Gesetze!

Das Gemeindewesen, das städtische wenigstens, ist ein Glanzpunkt des deutschen Mittelalters. Wer möchte nicht mit freudiger Genugthuung zurückblicken auf jene großen, blühenden Gemeinwesen, welche einst der Stolz Deutschlands im In- und Auslande waren? – auf jenes Nürnberg, von dem Aeneas Sylvius in seiner „Germania“ rühmt, daß seine Bürger „besser wohnten, als die Könige Schottlands“; auf jenes Straßburg, die Bildungs- und Wirkensstätte so vieler bedeutender Geister; auf jenes Mainz, das seines Reichthums wegen „das goldene“ genannt ward; auf jenes Köln, welches ganz allein der Heeresmacht des jungen Königs Heinrich widerstand, als dieser sich wider seinen Vater, den Kaiser Heinrich IV., empörte; endlich auf jene großen Städtebündnisse, das rheinische, das schwäbische, um deren Gunst und Bundesgenossenschaft Fürsten und Adel warben, vor Allem auf jene seegewaltige Hansa, welche mit ihren Kriegsschiffen die Ostsee beherrschte, die skandinavischen Reiche zittern machte, dänische Könige ein- und absetzte und mit ihren Factoreien von London bis Nowgorod den Handel aller nordeuropäischen Länder beherrschte? Wenn irgend eine, so möchte, scheint es, diese Zeit der Macht und Blüthe deutschen Bürgerthums als eine wirklich „gute“ zu rühmen sein. Nur schade, daß dieser eine helle Glanz so viele und so dunkle Schatten neben sich hat! Nur schade, daß das deutsche Kaiserthum, statt sich auf die starke und nachhaltige Kraft des freien Bürgerthums zu stützen, gegen dasselbe Partei nahm für den Adel und die Fürsten, denen dieses Bürgerthum und seine Macht ein Dorn im Auge war! Nur schade, daß deutsche Kaiser so gänzlich ihr eigenes und das Interesse des Reiches vergessen konnten, daß sie, wie ein Friedrich II. von Hohenstaufen und ein Karl IV. von Luxemburg, Verbote erließen gegen die Bündnisse der Städte unter einander und gegen die Uebersiedelung der vom Adel gedrückten Landbevölkerung in das freimachende Weichbild der Städte!

Unser heutiges Gemeindewesen aber, und nicht blos das städtische, sondern auch das ländliche, ist nicht mehr, wie damals, ein nur auf sich angewiesenes, von den maßgebenden Factoren des Staatswesens angefeindetes Element; es ist ein organisches Glied unseres Reichs- und Staatskörpers, welches dieser sorgsam hegt und schirmt und welches dafür wieder ihm immer neue befruchtende Kräfte zuführt. Wir haben auch nicht für unsere Städte ähnliche innere Krebsschäden zu fürchten, wie die, an denen jene einst so blühenden Gemeinwesen im alten Deutschland krankten und theilweise zu Grunde gingen. Es giebt heutzutage keine selbstherrlichen, sich selbst ergänzenden Magistrate mehr; es giebt nicht mehr jene schroffen Gegensätze von Patricierthum und Handwerkerthum, an deren leidenschaftlichen, oft gewaltthätigen Parteikämpfen mehr als eine Stadt sich verblutete. Der Grundsatz bürgerlicher und politischer Gleichberechtigung, der freilich manchem Anhänger der „guten alten Zeit“ ein Gräuel ist, verhindert die Unterdrückung der einen Classe durch die andere, und die friedliche Ausgleichung der Ansichten zwischen Regierenden und Regierten in den geordneten Formen öffentlicher Debatte behütet uns vor ähnlichen gewaltsamen Ausbrüchen schwer gedrückter Bevölkerungen, wie sie damals so häufig waren.

Treten wir aus den weiten Räumen des öffentlichen Lebens herein in die engen des Hauses und der Werkstatt! Nirgends mehr, als hier, klagen die Lobredner der Vergangenheit über das Verschwinden einer besseren alten Zeit, und doch ist nirgends mehr als hier Vorsicht geboten in Prüfung der Berechtigung solcher Klagen. Es ist wahr, das deutsche Gewerbe und insbesondere das Kunstgewerbe stand im Mittelalter theilweise auf einem Höhepunkte, von dem es später tief herabsank und zu dem es erst jetzt wieder mit rühmlichem Eifer emporstrebt. Mit einer von schmerzlichem Beigeschmack nicht freien Bewunderung blicken wir auf die kunstvollen alten Arbeiten, mit denen einst ein Nürnberg, ein Augsburg und andere deutsche Städte den Weltmarkt versorgten und beherrschten, Arbeiten, die für das heutige Geschlecht zur Nachahmung anspornende, aber noch immer nicht gänzlich erreichte Muster sind. Allein unsere Rückwärtsstreber auf wirthschaftlichem Gebiete irren, wenn sie meinen, diese Blüthe deutschen Kunstgewerbes sei das Erzeugniß jenes beschränkten und beschränkenden Zunftgeistes gewesen, den sie so gern uns als einen Segen für unser Handwerk anpreisen möchten.

Das deutsche Zunftwesen zeigt uns im Laufe seiner Entwickelung eine doppelte Seite: eine befreiende und eine beschränkende. Bei ihrer Entstehung und noch eine längere Zeit hindurch hatten die „Einigungen“ oder Innungen der Handwerker in den Städten lediglich den Zweck und die Wirkung, die bis dahin unfreien hörigen Handwerker zu freien, selbstständigen Bürgern zu erheben, auch wohl ihnen eine gewisse Gleich- oder Mitberechtigung neben dem Patriciat zu erringen. Beides gelang, das Erstere dauernd, das Andere wenigstens theilweise oder zeitweilig, und das Gefühl dieser selbsterrungenen persönlichen und wirthschaftlichen Freiheit, der berechtigte Stolz des Bürgers und Meisters auf die eigene Kraft – das war es, was den damaligen deutschen Gewerbtreibenden einen höheren Schwung gab, dem Gewerbe selbst aber neben andern mitwirkenden günstigen Umständen jene Gediegenheit und jene Vollkommenheit der Ausführung verlieh, die wir heut noch bewundern.

Aber sonderbar! Selbst aus jener Zeit kräftigster Entfaltung des deutschen Gewerbes in den großen Reichsstädten ertönen fast wörtlich genau dieselben Klagen über erdrückende Concurrenz im Handwerk, über leichtsinniges Sichherandrängen zur Meisterschaft, über Pfuscherei und Verschleuderung der Waaren, die wir heut so oft mit Bezug auf unsere jetzigen Zustände hören müssen. Ein wohlbekannter Sittenschilderer des 15. und 16. Jahrhunderts, der Verfasser der satirischen Dichtung: „Das Narrenschiff“, Sebastian Brant, der in Straßburg, einem Hauptsitze kräftigen und blühenden Bürgerthums, lebte und schrieb, hat eines der vielen Bilder, in denen er die Thorheiten und Schwächen seiner Zeit geißelt, überschrieben: „Das Gesellenschiff“. Darin nun heißt es:

„Kein Handwerk steht mehr in sei’m Werth;
Es ist all’ übersetzt, beschwert.
Jeder Knecht Meister werden will,
Deß’ sind in allem Handwerk viel.
Mancher zur Meisterschaft sich kehrt,
Der nie das Handwerk hat gelert (gelernt).
Einer dem Andern nimt das Brod,
Und bringt sich selbst damit in Noth.
Weil man die Arbeit giebt gering,
So sudelt man jetzt alle Ding.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_147.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)