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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


ihnen in Folge des dichten Pulverdampfes und der eingetretenen Dunkelheit wegen entgangen war, daß Keiner die Fahne wieder gebracht, gingen nach einander zwei Abtheilungen Freiwilliger vor, um die Fahne zu suchen. Vergeblich, sie Alle fanden den Tod bis auf Einen, der blutend und vom Feinde verfolgt unverrichteter Sache wiederkehrte.

Am nächsten Tage fanden französische Arbeiter, welche das Gefechtsfeld aufräumten, unter einem Leichenhügel, zerschossen, zerbrochen und mit Blut getränkt, die Fahne des 2. Bataillons.

Heute erhebt sich hier das Denkmal, welches das Regiment 61 seinen tapferen Cameraden errichtet hat.

Einzelne Theile der Fahne, wie die silbernen Quasten, sind später von französischen Arbeitern zurückgekauft und schmücken jetzt die neue von unserm Kaiser Wilhelm dem Bataillone verliehene Fahne. Wo die übrigen Stücke der alten Fahne hingekommen sind, hat trotz aller Nachforschungen nicht mit Sicherheit ermittelt werden können.[1]

Der oberste Kriegsherr würdigte die Heldenthat des von so schwerem Verlust betroffenen Bataillons in der gerechtesten Weise. An den General Manteuffel gelangte folgende in Homburg unterm 9. August 1871 erlassene Cabinets-Ordre, welche den besten Schluß unserer Erinnerung an dieses Ereigniß bildet:

„Aus den Mir vorgelegten Berichten habe Ich mit Genugthuung ersehen, daß das 2. Bataillon des 8. Pommerschen Infanterie-Regiments Nr. 61 am 23. Januar dieses Jahres, an welchem Tage dasselbe vor Dijon seine Fahne verlor, mit heldenmüthiger Tapferkeit gefochten hat und daß der Verlust der Fahne eines jener beklagenswerthen Ereignisse gewesen ist, die als das Resultat widriger Umstände Niemand zum besonderen Vorwurf gereichen. Die Fahne ist weder durch einen siegreichen Feind erobert, noch durch eine entmuthigte Truppe aufgegeben worden; ihre Stätte unter den Leichen ihrer tapferen Vertheidiger ist auf dem Schlachtfelde noch ein ehrendes Zeugniß gewesen für die Truppe, welcher sie vorangeweht hatte, bis die einbrechende Nacht sie den hütenden Blicken entzog. In Anerkennung der von dem 2. Bataillon des 8. Pommerschen Infanterie-Regiments Nr. 61 bewiesenen Tapferkeit, verleihe Ich demselben die beifolgende neue Fahne mit dem Bande der von Mir für den Feldzug 1870/71 gestifteten Denkmünze, an dessen einem Ende sich die wieder aufgefundene Quaste der Banderolle der alten Fahne befindet, und beauftrage Sie (General Manteuffel), dieselbe dem Bataillon in Meinem Namen feierlich übergeben zu lassen.

Wilhelm. 
  1. Einer der damaligen Kampfgenossen, Herr Emil Totzeck, welcher durch eine zum Theil in poetischer Form ausgeführte Schilderung des Kampfes vor Dijon uns zu dem vorliegenden Artikel veranlaßte, theilt darin einen Brief von Menotti Garibaldi an den Commandeur des 61. Regiments mit, in welchem bedauert wird, daß man die aufgefundenen Fahnenreste nicht zurückgeben könne, weil man sie auf höheren Befehl nach Lyon habe absenden müssen.

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.

Jeder Nachdruck verboten. 

I.

Ich habe in der That, theure Dame, die Denkwürdigkeiten meiner Zeit, in so fern meine eigne Person damit als Zuschauer oder als Opfer in Berührung kam, so wahrhaft und getreu als möglich aufzuzeichnen gesucht.

Diese Aufzeichnungen, denen ich selbstgefällig den Titel Memoiren verlieh, habe ich jedoch schier zur Hälfte wieder vernichten müssen, theils aus leidigen Familienrücksichten, theils auch wegen religiöser Skrupeln.

Ich habe mich zwar seitdem bemüht, die entstandenen Lakunen nothdürftig zu füllen, doch ich fürchte, postume Pflichten zwingen mich, meine Memoiren vor meinem Tode einem neuen Autodafé zu überliefern, und was alsdann die Flammen verschonen, wird vielleicht niemals das Tageslicht erblicken.

Ich nehme mich wohl in Acht, die Freunde zu nennen, die ich mit der Hut meines Manuskriptes und der Vollstreckung meines letzten Willens in Bezug auf dasselbe, betraue; ich will sie nicht nach meinem Ableben der Zudringlichkeit eines müßigen Publikums und dadurch einer Untreue an ihrem Mandate bloßstellen.

Eine solche Untreue habe ich nie entschuldigen können; es ist eine unerlaubte und unsittliche Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftsteller zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind. Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer Felonie schuldig, die Verachtung verdient.

Nach diesen Bekenntnissen, theure Dame, werden Sie leicht zur Einsicht gelangen, daß ich Ihnen nicht, wie Sie wünschen, die Lektüre meiner Memoiren und Briefschaften gewähren kann.

Jedoch, ein Höfling Ihrer Liebenswürdigkeit, wie ich es immer war, kann ich Ihnen kein Begehr unbedingt verweigern, und um meinen guten Willen zu bekunden, will ich in anderer Weise die holde Neugier stillen, die aus einer liebenden Theilnahme an meinen Schicksalen hervorgeht.

Ich habe die folgenden Blätter in dieser Absicht niedergeschrieben, und die biographischen Notizen, die für Sie ein Interesse haben, finden Sie hier in reichlicher Fülle. Alles Bedeutsame und Charaktristische ist hier treuherzig mitgetheilt, und die Wechselwirkung äußerer Begebenheiten und innerer Seelenereignisse offenbart Ihnen die Signatura meines Seyns und Wesens. Die Hülle fällt ab von der Seele, und du kannst sie betrachten in ihrer schönen Nacktheit. Da sind keine Flecken, nur Wunden. Ach! und nur Wunden, welche die Hand der Freunde, nicht die der Feinde geschlagen hat!

Die Nacht ist stumm. Nur draußen klatscht der Regen auf die Dächer und ächzet wehmüthig der Herbstwind.

Das arme Krankenzimmer ist in diesem Augenblick fast wohllustig heimlich und ich sitze schmerzlos im großen Sessel.

Da tritt Dein holdes Bild herein, ohne daß sich die Thürklinke bewegt, und Du lagerst dich auf das Kissen zu meinen Füßen. Lege Dein schönes Haupt auf meine Kniee und horche ohne aufzublicken.

Ich will dir das Märchen meines Lebens erzählen.

Wenn manchmal dicke Tropfen auf Dein Lockenhaupt fallen, so bleibe dennoch ruhig; es ist nicht der Regen, welcher durch das Dach sickert. Weine nicht und drücke mir nur schweigend die Hand.

*  *  *

Anmerkung des Herausgebers. Die „theure Dame“ dieses Eingangs der Memoiren ist vielleicht nur eines jener Phantasiegebilde, an welche Heine sich so oft in seinen Werken, nicht blos in seinen Gedichten, wendet. Vielleicht aber ist es auch eine der Frauengestalten, welche Heine auf seinem Krankenlager zuweilen durch
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_113.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2024)