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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

immer das alte traurige Lied. Wer etwa noch Angehörige hat, ist von diesen fortgejagt, verlassen, oder bis zur Verzweiflung mißhandelt, auch wohl systematisch zum Betteln, Stehlen und allem Bösen angehalten worden.

Führt aber ihr guter Stern die Kleinen in die Hände des Dr. Barnardo, so ist ihnen geholfen, sie werden aus dem Schmutze erlöst, und ein neues Leben fängt an. Nun bekommen sie ein Bad, ein reinliches Bett, warme Kleider, regelmäßige Mahlzeiten; nun hören sie, was Recht und was Unrecht ist; hören von einem guten himmlischen Vater, sehen Ordnung, Reinlichkeit, gesittetes Betragen und Glück um sich her, lernen lesen, schreiben und so viel nützliche Dinge, daß sie sich später selbst helfen und brave, geachtete Menschen werden können.

Dies gelingt denn auch nahezu immer und ist der schönste Lohn für Dr. Barnardo’s harte, mühselige Arbeit. Die 5000 Kinder, die seit den letzten 17 Jahren durch seine Anstalten gegangen sind, hat er aus heranwachsenden Verbrechern großentheils zu nützlichen und guten Menschen umgewandelt.

Und wie wird dies schwere Werk ausgeführt? Außer den Schulanstalten, in welchen die Kleinen den ersten nöthigen Unterricht erhalten, hat Dr. Barnardo Arbeitshäuser, in denen die Knaben nützliche Handwerke lernen, fröhlich und fleißig schustern, schneidern, zimmern, buchbindern, Holz hacken, Körbe flechten, Besen und Bürsten binden, Blechsachen arbeiten, Sodawasser und Limonade bereiten und Vieles mehr. Da ist eine sogenannte Brigade für Botenlaufen in der Stadt, eine andere für Stiefelputzen etc. Das Geld, welches sie mit all diesen Arbeiten verdienen, hilft dann auch mit zur Erhaltung des Ganzen.

Für die Mädchen hat Dr. Barnardo ein eigenes Dörfchen in Ilford, Essex, eingerichtet; es besteht aus 30 ganz gleichen Häuschen, die ungemein freundlich, man möchte sagen „appetitlich“ aussehen. Jedes Häuschen wird von 20 Mädchen bewohnt, über welche eine „Mutter“ gesetzt ist, die sie nähen, waschen, bügeln, kochen, backen, scheuern etc. lehrt und sie zu guten Dienstmädchen erzieht. Diese Mädchen verrichten, sobald sie alt genug sind, wie auch die Knaben, alle Dienste im Hause, sodaß keine weiteren Dienstboten nöthig sind.

Für die Kranken und Gebrechlichen unterhält Dr. Barnardo ein besonderes Krankenhaus mit Medicin, ärztlicher Hülfe, richtiger Pflege und trostreichem religiösen Zuspruche.

Für die allerkleinsten Kinder ist ein Landhaus auf der Insel Jersey eingerichtet, wo sie unter sorgfältiger Aufsicht und Pflege heranwachsen, bis zur Schulzeit. Kürzlich hat Barnardo sich auch entschlossen, richtige „babies“, wenn auch erst wenige Wochen alt, anzunehmen, und hat diese in dem oben erwähnten Mädchendorf untergebracht, wo sie einer solchen „Mutter“ übergeben worden sind. Dadurch ist erst ein wahres Familienleben hergestellt worden.

Außerdem leitet Dr. Barnardo noch Sonntagsschulen für besondere Zwecke, Missionen für arme Fabrikmädchen, ein gegen die Trunksucht errichtetes Kaffeehaus (sogenannten Kaffeepalast) und vieles Andere mehr, sodaß jetzt zweiundzwanzig verschiedene Institute unter seiner Leitung stehen.

Dazu führt er jeden Sommer seine Schaar einen Tag auf’s Land. Nur wer in London lebt, kann fühlen, was für ein ersehntes Fest das für Kinder ist, und mit unbeschreiblichem Entzücken sprechen seine etwa 2400 Pfleglinge lange vorher und lange nachher davon.

Sehr wichtig ist ferner die von ihm betriebene Emigration des jungen Völkchens. Von den größern, so zu sagen „fertigen“ Kindern, deren sittlicher Charakter, Körperstärke, Handfertigkeit und sonstige Eigenschaften sie zum Auswandern geeignet erscheinen lassen, werden sorgfältig die passendsten ausgewählt und von Zeit zu Zeit in Abtheilungen von 80 bis 100 unter zuverlässiger Aussicht nach Canada, Australien oder Südafrika geschickt, und dort suchen befreundete Personen für jedes Kind ein passendes Unterkommen. Dies ist durchaus nicht schwer, und die Berichte, welche später über die einzelnen Pfleglinge eingehen, lauten größtentheils äußerst befriedigend.

Bei einer solchen Auswanderung ist für jedes Kind die Summe von 10 Pfund Sterling nöthig, und die Zahl der kleinen Emigranten, Knaben und Mädchen, belief sich im letzten Jahre auf 300. Dies sowohl, wie die Aufgabe, täglich dreimal 1400 Mäulchen zu füttern, und die Ausgaben für alle die verschiedenen Anstalten erfordern natürlich Geld, Geld und wieder Geld; wie wir hören, sind circa 100 Pfund Sterling (2000 Mark) jeden Tag nöthig, und es ist keine Kleinigkeit, eine solche Summe 365 Mal im Jahre herbeizuschaffen.

Ein hübsches Theilchen davon verdient das junge Volk selbst. Aus einem Bericht des Dr. Barnardo geht hervor, daß z. B. die drei Abtheilungen der Holzhacker, Schuhputzer und Botenläufer allein im letzten Jahre 4279 Pfund Sterling verdient und abgeliefert haben. Sodann wird jährlich ein Bazar gehalten, der auch eine gute Summe einbringt. Da werden nicht nur die Arbeiten der Kinder, sondern auch die geschenkten Beiträge verkauft, welche oft eine recht wunderliche Zusammenstellung ergeben, denn außer solchen Geschenken, die man gleich als nützlich erkennt, wie Kleidungsstücke, Lebensmittel etc., kommen auch Spitzen, Ballkleider, Juwelen, Porcellan, Silberzeug, Bilder, Uhren, lebendige Thiere: Esel, Hunde, Federvieh, Fische und alles nur Denkbare. Es giebt absolut nichts, was hier nicht benutzbar wäre.

Aber immer bleibt es noch schwer, die Einnahmen mit den Ausgaben im Gleichgewicht zu erhalten, und es ist der Mildthätigkeit ein noch großes Feld gelassen. Für jede Gabe legt Dr. Barnardo genau Rechnung ab und quittirt jeden einzelnen Fall; er freut sich nicht minder über die wenigen Schillinge der Unbemittelten, der Arbeiter, Dienstboten etc. als über die Hunderte und Tausende von Pfunden, die gelegentlich von den Reichen kommen. Am rührendsten sind die Beiträge von Kindern; das Eine greift in seine Sparcasse, ein anderes trinkt seinen Thee ohne Zucker, ein drittes schickt die Belohnungen für sein zeitiges Aufstehen; noch andere verkaufen ihre Kaninchen, ihre Seidenraupen, Blumen, aufgesammelte Maculatur u. dergl., und viele kleine Mädchen arbeiten allerhand hübsche Kleinigkeiten und veranstalten damit unter ihren Freunden einen Familienbazar. Beiträge kommen aus Indien, Neu-Seeland, Amerika etc. An einem glücklichen Tage wurden größere und kleinere Summen von 86 verschiedenen Orten geschickt, an einem andern sogar von 203!

Oft senden Eltern die Ersparnisse der Kinder, die sie durch den Tod verloren, oder eine Gabe als Dankopfer für ein freudiges Familienereigniß, eine erfüllte Hoffnung, eine überstandene Gefahr, auf der See, in Krankheit u. dergl.

Einmal hören wir von einer schlimmen Zeit, wo sehr wenig eingegangen war – die Ausgaben groß, die Casse leer, Alles im Rückstand, das Conto auf der Bank bereits stark überschritten und keine directe Aussicht auf baldige neue Einnahmen! Dr. Barnardo weiß nicht, wie er sich helfen soll; aber er läßt den Muth nicht sinken. Da meldet sich eine ältliche Dame an, die ihn selbst sprechen will und mit einer gewissen Schüchternheit erzählt, wie sie schon lange seine Thätigkeit bewundert habe etc. Endlich greift sie in die Tasche und händigt ihm ein Papierchen ein, das einer Fünf-Pfund-Note nicht unähnlich sieht. Beim Auseinanderfalten mögen sich seine Augen sehr vergrößert haben, denn er hielt eine Tansend-Pfund-Banknote in der Hand. Nachdem der freudige Dank für die so sehr willkommene Summe ausgesprochen war, brachte die Dame halb ängstlich eine zweite solche Note heraus und verdoppelte damit die reiche Gabe. Kurz darauf ging sie fort, aber nicht ohne ihm zum Abschied noch eine „Dritte“ in ihrer scheuen Weise überreicht zu haben. Diese dreimalige Ueberraschung, die so recht wie vom Himmel kam, befreite den Mann für die nächste Zeit von allen seinen Sorgen. Ueber das dabei zum Vorschein gekommene scheue Wesen der Dame wird sich Niemand wundern, der den Charakter der Engländerinnen hat kennen lernen. Diese Schüchternheit findet man häufig bei den alleredelsten.

Noch ein paar Worte über die Aufnahme der Kinder. Da giebt es eigenthümliche und interessante Fälle. So berichtete vor einiger Zeit die Tagespresse: eine Frau habe im trunkenen Zustande ihr eigenes, sechszehn Monate altes Kind ins Feuer geworfen. Eine Nachbarin, die Zeuge war, riß das Kindchen schnell heraus, aber ehe sie es verhindern konnte, hatte es die barbarische Mutter zum zweiten Male hineingeworfen. Die Frau zog es wieder heraus, bemühte sich jetzt, es zu schützen, und rief nach Hülfe. Indeß, ehe die Polizei herbei kam, hatte die Mutter es möglich gemacht, das Kind mit kochendem Wasser zu begießen, und nun war das arme kleine Geschöpf so vielfach beschädigt und verbrannt, daß die Polizei es in’s Hospital schaffte, wo es für verloren erklärt wurde. Trotz alledem genas es allmählich doch,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_083.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2020)