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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

als sie beim Passiren der Rosengasse zu dem Hause hinaufgeschaut, wo der Vater wohnte. Er hatte am Fenster gestanden im Schlafrock und Käppchen, aber das eifrige Grüßen und Nicken des blonden Mädchenkopfes dort unten hatte er nicht erwidert.

Papa war immer so in Gedanken, Papa wußte entschieden mitunter gar nicht, daß er ein Töchterchen besaß.

Aber dann fing die Musik an zu spielen und sie sprachen zusammen, so von gar nichts, und doch so viel. „Ich heiße Bernhard mit Vornamen,“ hatte er erzählt und die warme Decke sorglich um die schlanke Mädchengestalt gelegt.

„Bernhard Bernardi, das klingt, wunderschön,“ dachte Else.

„Ihre Frau Cousine ist doch die Vorsehung selbst für unsere Geselligkeit,“ plauderte er weiter. „Denken Sie, wo sollten wir heute Abend tanzen, wenn nicht in der Halle auf der Burg? Charmante Leute, wahrhaftig!“

„Wo ist Annie Cramm eigentlich? Wer fährt sie?“ fragte Else.

Er lachte, daß die weißen Zähne unter dem schwarzen Bärtchen blitzten.

„Fähnrich Herbart ist dazu commandirt worden.“

„O wie abscheulich! Annie ist so gut.“

„Gut? Ist das Alles? Das ist wenig.“

„Das ist viel, mein Herr,“ sagte das junge Mädchen mit vollster Ernsthaftigkeit in den braunen Kinderaugen.

Er mußte sie immerfort ansehen; er kannte jeden Zug dieses reinen, frischen Gesichtes, und es war doch eigentlich famos, so zu fahren neben dem lieblichen Geschöpf, das so anders war, als die Andern, so – so – er wußte selbst nicht das rechte Wort – so treuherzig, so zum Küssen verständig, so echt weiblich in ihrem ganzen Wesen. Und er dachte, während seine Blicke unverwandt an ihr hingen, des Elternhauses und seiner Mutter, und dann stand er plötzlich in der altmodischen Wohnstube daheim, und neben ihm – stand sie –.

(Fortsetzung folgt.)




Der Schutz vor der Unkenntniß der Gesetze.

Eine strafrechtliche Studie von Fr. Helbig.
Unkenntniß der Gesetze schützt den Thäter nicht vor Strafe und Schaden. – Nothwehr und Selbsthülfe. – Das Zurückziehen des Strafantrags. – Widerstand gegen Beamte. – Hausfriedensbruch. – Bedrohung mit einem Verbrechen. – Nöthigung und Erpressung. – Der Funddiebstahl. – Unterschlagung. – Diebstahl und Hehlerei.

Die wachsende Complicirtheit unserer Lebensverhältnisse führt zugleich eine Vermehrung der Gesetze herbei, wobei die Raschheit der gesellschaftlichen Fortentwickelung die Gesetzgebung oft überholt, denn Recht und Gesetz werden erst von den Verhältnissen erzeugt; sie liegen lange vor ihrer Existenz schon gewissermaßen in der Luft. Daher kommt es wohl, daß die bestehenden rechtlichen Formeln und Begriffe für manche neue Erscheinungen nicht mehr ausreichen.

Das ist ganz besonders auch der Fall auf dem Gebiete des Strafrechts. Der immer mehr erschwerte Kampf um das Dasein erzeugt heutzutage ein solches Raffinement in Auffindung der Erwerbsmittel, daß es oft schwer ist, die Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem aufzufinden. Daher der Ruf nach neuen klärenden Gesetzen! So darf man sagen, daß mit der Steigerung der Cultur auch immer eine Steigerung des Umfangs der Strafgesetzbücher eintritt. Wir sind über die zehn Gebote Mosis bereits längst hinaus; denn obwohl sie gewissermaßen den Moralcodex unserer Schulzeit bilden, würden wir mit ihnen doch im Leben nicht mehr weit kommen.

Die Paragraphen unseres Reichsstrafgesetzbuches sind heute für den Laien kaum noch zu überblicken, aber gleichwohl hält man heute, wie zu allen Zeiten, an dem Grundsatze fest, daß die Unkenntniß der Gesetze den Thäter nicht vor Strafe und Schaden zu schützen vermag – und mit vollem Rechte. Die Nothwendigkeit dieses Grundsatzes leuchtet von selbst ein; denn ohne ihn würde die Wirksamkeit der Gesetze lahm gelegt werden, die Regierungsgewalt selbst allen Boden unter sich verlieren.

Im Allgemeinen wird uns nun zwar das dem gesitteten Menschen innewohnende Gefühl für Recht und Unrecht vor einem groben Conflict mit dem Strafgesetzbuche bewahren, aber dennoch kommen Fälle genug vor, in welchen brave und unbescholtene Leute aus Unkenntniß der einzelnen Specialbestimmungen wider das Strafgesetz sündigen.

Wie soll sich da der Laie helfen? Wir wollen versuchen, dieses wichtige Thema wenigstens in seinen Hauptgesichtspunkten etwas zu beleuchten.

Das Mittel, an welches der Laie zunächst denkt, die Einholung der Ansicht eines Rechtsverständigen, kann Niemand vor den Folgen seines darauf gegründetem Handelns schützen, sofern der eingeholte Rath falsch oder falsch aufgefaßt ist. Ist doch selbst die hohe Polizei, außer in Fällen, wo es ihr besonders gestattet ist, nicht im Stande, etwas zu erlauben, was das Gesetz bestraft.

Nur der Irrthum in Betreff von Thatsachen kann unter Umständen zur Entschuldigung dienen, sofern Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen. So kann Jemand nicht der Widersetzung gegen die öffentliche Autorität für schuldig erachtet werden, wenn ihm die Beamteneigenschaft der Person, gegen welche er Widerstand ausübte, nicht bekannt war; er kann ferner nicht der Doppelehe beschuldigt werden, wenn ihm die Verheirathung des Andern unbekannt geblieben war. Dagegen schließt der Umstand die Strafbarkeit nicht aus, daß Jemand irrthümlich seine That gegen ein anderes Object richtet, als er eigentlich wollte, z. B. eine Person körperlich verletzt, die er irrthümlich für diejenige hält, an welcher er Rache nehmen will.

Nur die irrige Annahme über die Zuständigkeit von Rechten, die ihren Grund im Civilrecht haben, kann die Annahme eines verbrecherischen Willens möglicher Weise beseitigen. Man nimmt dann an, der Thäter habe in dem guten Glauben gehandelt, recht zu thun. So, wenn Jemand auf Grund eines abgeschlossenen Kaufvertrages die gekauften, aber noch nicht übergebenen Sachen dem Verkäufer wegnimmt in der irrigen Annahme, daß es nicht erst der Uebergabe bedürfe, damit die Sachen ihm gehörten; so ferner, wenn Jemand eine fremde Sache verkauft, weil er sie für seine eigene hielt und den Umständen nach auch halten konnte.

Straflosigkeit liegt auch vor, wenn ich im Zustande der Nothwehr ein Verbrechen begehe. Meistens wird aber der Umfang der Nothwehr überschätzt. Man meint da wohl, man könne Jeden, der zur Nachtzeit in unsere Behausung sich einschleicht, ohne Weiteres über den Haufen schießen oder einem Diebe, der Reißaus nimmt, getrost eine Ladung Schrot in den Rücken jagen. Die Nothwehr kennzeichnet sich aber nur als die Vertheidigung gegen einen gegenwärtig drohenden Angriff und darf daher nur insoweit eine angreifende sein, als die Abwendung dieses Angriffs es erfordert. Eine Ueberschreitung der Grenzen der bloßen Vertheidigung soll nur dann entschuldigt werden, wenn sie aus Bestürzung oder aus Schrecken erfolgte.

Auch über das Recht der Selbsthülfe bestehen oft unklare Ansichten. Frühere Strafgesetzbücher erklärten dieselbe überhaupt als verboten. Das Reichsstrafgesetzbuch hat sie zwar nicht unter die Zahl der strafbaren Handlungen aufgenommen, sie kann jedoch in ihrer Ausübung sehr leicht das verbrecherische Gebiet streifen, namentlich kann sie, sobald sich mit ihr eine Gewalt oder Drohung verbindet, zu einer strafbaren Nöthigung werden. Dies macht ihre Ausübung stets bedenklich und gefährlich.

Eine Anzahl Vergehen setzen einen Strafantrag des Verletzten voraus, bevor sie vor das Forum des Gerichts gelangen können. Ich kann also die mir drohende Gefahr einer Verurtheilung dadurch abwenden, daß ich den Antragsberechtigten rechtzeitig bestimme, einen Strafantrag nicht zu stellen. Ist der Strafantrag aber einmal gestellt, so kann derselbe nicht wieder zurückgenommen werden außer in den Fällen der Beleidigung, des Nahrungsmitteldiebstahls, sowie einiger anderer Vergehen, meistens solcher, wo die Verletzten Angehörige des Thäters sind. Früher war die Zahl dieser Antragsvergehen eine weit größere, durch das Nachtragsgesetz zum Strafgesetzbuchs vom 26. Februar 1876 aber ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_076.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)