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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

und dann ein wildes Wogen, ein bezauberndes Chaos von Tönen, zwischendurch immer die Grundmelodie anklingend und endlich noch einmal der schmerzliche Aufschrei der Schlußstrophe.

Die Blicke der beiden jungen Menschen hingen an einander während des Spieles; nun schlugen sich die feuchten braunen Mädchenaugen zu Boden, und das Roth der Wangen war einer leichten Blässe gewichen; still setzte sie sich neben Tante Lott. Bernardi hatte die Violine hingelegt und ließ die Lobpreisungen über sich ergehen; nur Tante Ratenow schwieg.

„Es ist ein altes Lied,“ sprach sie endlich, „mit immer neuer Melodie. Sagtest Du nicht so, Frieda?“ – „Elschen!“ rief sie dann, als man im Speisezimmer die Plätze aufsuchte und das junge Mädchen eben den seinigen neben dem Officier einnehmen wollte, „Elschen, laß Moritz oder Tante Lott dort sitzen und hilf mir hier ein wenig, ich habe wieder mein Reißen im Arm.“

Else war gleich bereit. Moritz aber blickte die Mutter groß an, ihm graute förmlich vor diesen weiblichen Kriegslisten. – Und Alles so unnöthig, wie er meinte. Dort saß er, der Gefährliche, und sprach so angelegentlich mit seiner blassen Nachbarin, und dann machte er eine Apfelsine für Frieda zurecht und erzählte Manövergeschichten. Es war eine lebhafte Unterhaltung an der Tafel voll Scherz und Ernst, und Moritz kam zuletzt auf den Feldzug zu sprechen, und dabei wurden die Herren sehr warm.

Es war spät geworden, als man sich erhob, der Wagen hatte lange warten müssen auf Fräulein Annie Cramm, in Sturm und Regen draußen; nun hüllte sie sich in den seidnen Pelzmantel und nahm Abschied in der Halle.

„Herr Lieutenant, darf ich Ihnen einen Platz in meinem Wagen anbieten?“ fragte sie.

Er stand vor Else und sprach mit ihr, die Mütze unter dem Arm. Das große Gemach war nur schwach erhellt, aber Annie sah es dennoch, wie er eine schmale, halb widerstrebende Mädchenhand an seine Lippen zog.

„Wollen Sie mit mir fahren, Herr Lieutenant?“ fragte sie nochmals ungeduldig, „es ist schon sehr spät, und ich habe Eile.“

„Ich danke, mein gnädiges Fräulein, der Weg thut mir gut, ich ziehe es vor, zu gehen,“ erwiderte er mit seiner ritterlichsten Verbeugung.

Annie Cramm zog den Schleier über ihr blasses Gesicht und vergaß Else Hegebach Adieu zu sagen. Moritz brachte sie an ihren Wagen und schüttelte dann dem jungen Officier die Hand, der eben die Freitreppe herunter kam. So stand er noch ein Weilchen, dem Davongehenden nachschauend, sah über den Hof und dann zum Himmel hinauf, und blieb schließlich mit seinen Blicken an zwei Fenstern des oberen Stockes hängen, hinter denen eben ein Licht aufflammte.

Er begann auf einmal leise ein paar Tacte aus „Boccaccio“ zu pfeifen und ging ins Haus. „Frieda,“ sagte er zu der kleinen schönen Frau, die eben den Flügel schloß im Salon, „liegt nicht irgend etwas in der Luft?“

„Jetzt machst Du wieder eine Entdeckung, Moritz?“ erwiderte sie lachend.

„Ja, mit Bernardi und –“

„Ach Unsinn, sie ist zu garstig,“ unterbrach sie ihn.

„Nein. Nein! Ich meine Else.“

„Ach, Du großer Gott!“ gab sie gleichmüthig zurück, „wenn Du weiter nichts weißt – das ist eine pure Unmöglichkeit – er denkt nicht daran.“

„Aber wenn sie, Else –?“

„Ja, mein Himmel! Ich hatte vor Dir auch schon zwei Lieben, Moritz, und ich lebe noch.“

Er hörte das Letzte nicht mehr, ihm waren plötzlich die Worte eingefallen, welche das Mädchen vorhin gesungen:

„Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind.“

„Es wäre schändlich!“ sagte er und strich sich übcr die Augen.

Droben aber saß ein Mädchen in der tiefen Fensterbank und hielt die Hände gefaltet über ihrem klopfenden Herzen. Sie war nicht arm, sie war so reich, daß sie mit keinem Menschen in der Welt getauscht hätte! Ja, war es denn möglich, daß das Leben so schön sein konnte? War es denn möglich, daß Jemand sie lieb haben konnte, so lieb, wie es seine Augen deutlich sagten? Und sie saß lange und starrte nach den Lichtern des Städtchens, bis eins nach dem andern verlosch; von nebenan drangen die ruhigen Athemzüge Tante Lott’s herüber, die schlief so süß und fest und vergaß es aufzustehen und ihr zu sagen, wie sie es schon die ganze Zeit vergessen hatte: „Kind, was träumst Du denn? Du bist ja nur ein armes Mädchen!“




Draußen war nun der Winter gekommen, und der Schnee lag um Weihnacht weiß und blitzend über dem stillen Lande und auf den Dächern der Wohnungen, und bis Neujahr schneite es noch immer weiter. Die Chausseen und Straßen waren fest und glatt wie das schönste Parquet, und Moritz ließ die Eisen der Pferde schärfen; man wollte eine Schlittenpartie machen, eine große Schlittenpartie.

Die junge Frau von Ratenow, im dunkelblauen pelzbesetzten Sammetcostüm, zog eben noch die gleichfarbigen Handschuhe vor dem großen Spiegel ihres Schlafzimmers an. Sie sähe zum Küssen aus, behauptete Moritz, und er würde sich überdies recht auf den ganzen Rummel freuen, wenn nicht wieder dieser unglückliche Bernardi die Else fahren wollte!

Die junge Frau zuckte kaum merklich die feinen Schultern. „Diese ewige Besorgniß um Else! Mama spricht von nichts weiter, und Du auch nicht; ist sie denn nur so ganz etwas Besseres, als alle die andern Mädchen?“

„Ja!“ erwiderte Moritz warm. „Sie hat ein tiefes weiches Gemüth, und wenn sie etwas empfindet und erfaßt, so thut sie es voll und ganz. Oberflächliche Tändeleien oder gar Koketterien sind der kleinen Deern völlig fremd.“

„Du scheinst Dich sehr genau mit dem Studium dieser Mädchenseele abgegeben zu haben,“ klang es zurück; anscheinend ruhig, aber Moritz kannte den Tonfall dieser biegsamen Stimme allzugut, um nicht zu wissen, daß die Sprecherin sehr gereizt sei.

„Frieda, ich bitte Dich – ich kenne sie seit ihrem ersten Lebenstage, so, wie ich unsere Kinder kenne!“ Seine ehrlichen Augen sahen förmlich erschreckt in ihr Gesicht, das so blühend unter den Straußfedern des Hutes hervorleuchtete. Aber sie knöpfte ruhig den letzten Knopf der langen Handschuhe zu und ergriff den zierlichen Muff. „Ich glaube, die Herren sind schon im Salon.“ Dann schwebte sie an ihm vorüber, ohne im mindesten Notiz zu nehmen, daß dort eine Männerhand sich versöhnend nach ihr ausstreckte.

Es war nicht das erste Mal, daß die junge Frau ein ähnliches verblümtes Wort gesprochen; es war ja auch nach ihrer Meinung geradezu entsetzlich, wie man sich um dies Mädchen abängstigte, die es doch wahrhaftig lange gut hatte in der Welt. Wer würde um sie denn auch nur eine Hand rühren, wäre sie daheim bei ihrem spleenigen Vater? Und immer betonte Mama Ratenow, daß sie ein Unglück verhüten wolle, und Moritz, als getreues Echo, sprach es nach. Das wurde ja schließlich langweilig; – was war es denn weiter, wenn ein Officier ihr den Hof machte? Sie amüsirte sich eben, das konnte man ihr ja gönnen; Gefahr hatte es jedenfalls nicht, denn – er war ja viel zu vernünftig. – Bernardi – und Else! Lächerlich!

Die Röthe des Unmuthes lag noch auf ihren Wangen, als die junge Frau in den Salon trat, um den Rittmeister von Franken und den Lieutenant Bernardi zu begrüßen, die beiden Herren, welche sich die Ehre ausgebeten, die Damen fahren zu dürfen.

Der Rittmeister, ein bildschöner, schlanker Mann und großer Verehrer der jungen Frau, ließ sich scherzend auf ein Knie nieder und überreichte seiner Dame einen Strauß mattgelber südlicher Rosen.

Else hielt mit glückseligem Gesicht ein Veilchenbouquet in der Hand.

„O Frieda, sieh doch, Schnee und Eis und diese herrlichen Blumen, es ist wie ein Traum!“

Wie ein Traum, wie ein süßer Traum war ja das Leben; die Sonne lag so funkelnd und blitzend auf der verschneiten Landschaft, die Luft war so klar und kalt, von so köstlicher Reinheit, und die Glöckchen klingelten und der Schlittenzug flog so stattlich über die prächtige Schneebahn; wie sieht sich die Welt doch schön an, wenn das Glück im Herzen wohnt! – Der Blick des jungen Mädchens hatte sich nur einmal getrübt; das war,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_075.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2020)