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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

sang mit Vorliebe Solo und erschien stets in gewähltester Toilette, wenn auch nicht gerade immer der Situation und der Person angemessen, und erregte damit nicht selten die Spottsucht der jungen Hausfrau, die für Alles, was nicht „chic“, eine fast krankhafte Empfindlichkeit besaß.

Else’s schwarzes Cachemirkleid passirte ein- für allemal vor ihren Augen als „leidlich anständig“. Was sollte Frieda auch machen? Im Anfange hatte sie die Absicht gehabt, des Mädchens mehr als einfache Garderobe aus ihrem Kleiderschranke aufzubessern, und war dabei auf einen höchst energischen Widerstand ihres sonst so fügsamen Gatten gestoßen.

„Wenn Else Etwas braucht,“ erklärte er, „so wird ihr Mutter schon, wie bisher, die Sachen besorgen; nebenbei, was soll sie mit Deiner abgelegten Garderobe, sie ist einen Kopf größer als Du? – Ich will überhaupt nicht, daß sie Deine alten Kleider trägt, Frieda! Wozu ihr denn den Stempel der Armuth vor allen Leuten aufdrücken?“

Und so kam das schlanke blonde Mädchen immer in ihrem einfachen schwarzen Kleidchen; eine Tracht, die ihren eigenartigen Liebreiz nur doppelt hervorhob.

Nun war man schon so weit, daß zweimal an bestimmten Tagen der Woche die Lichter festlich auf dem Flügel brannten und von vier Uhr Nachmittags, zuweilen bis zwölf Uhr Nachts, Musik getrieben wurde.

„Ich kann weiter nichts als auf dem Kamm blasen,“ erklärte Moritz eines Nachmittags, als Else mit einem Notenhefte die Treppe herunterkam und ihn im Flur traf, „und allenfalls ‚Heil dir im Siegerkranz‘ pfeifen; ich komme zum Essen pünktlich, und wenn nachher ein paar Lieder gesungen werden, höre ich sehr gern zu. Von Euren Symphonien verstehe ich nichts. Adieu, Else, und spare ein paar Lieder für mich auf.“

Und da er gerade draußen nichts zu thun hatte, ging er zu seiner Mutter, zündete sich eine Cigarre an und setzte sich behaglich in den Lehnstuhl seines seligen Vaters. Um ein Gespräch waren Mutter und Sohn nie verlegen; die große Wirthschaft ergab es von selbst, sie pflegten noch immer Alles mit einander zu besprechen. Die alte praktische Dame hatte stets einen guten Rath bei der Hand, und so waren sie denn sehr bald in einen landwirthschaftlichen Disput verwickelt. Dann kamen noch einige kleine Stadtklatschereien dazu, und schließlich erzählte Moritz, daß er in Magdeburg vor einigen Tagen den Bennewitzer gesprochen habe und daß dieser ihm mitgetheilt, sein Vetter sei dennoch gerichtlich gegen ihn vorgegangen.

„Meinetwegen,“. sagte Frau von Ratenow, „der Starrkopf muß sich erst blutig stoßen, eher glaubt er nicht, daß es Mauern giebt. Ich habe mir die Zunge lahm geredet und die Hand lahm geschrieben, aber er hält mit einer Unerschütterlichkeit an seinem vermeintlichen ‚guten Rechte‘ fest, die einer besseren Sache würdig wäre.“

Sie schwieg, aber die Stricknadeln klapperten energischer an einander als vorher; nichts konnte die alte Dame ärgerlicher machen, als wenn Jemand sich nicht von ihr belehren lassen wollte.

„Sag, mein Jung’,“ fragte sie plötzlich, „ist es wirklich nur die Wuth, Musik zu machen, die den schwarzen Lieutenant mit seiner Geige so oft hierher führt?“

„Vermuthlich wohl,“ erwiderte Moritz, „sie thun ja nichts Anderes und vergessen Essen und Trinken darüber.“

„Na, weißt Du, Moritz, auf Dich verlasse ich mich nicht, in solchen Dingen bist Du wie ein Kind; ich werde da selbst einmal nachsehen müssen.“

„Ei, Mutter! Tante Lott sitzt ja dabei – strickt und ist entzückt –“

„Ja, die ist die Rechte,“ nickte Frau von Ratenow, noch immer zwischen Scherz und Ernst; „eine gute Seele; aber trotz ihres Alters wäre sie just noch die Erste, sich in den Bernardi zu verlieben.“

Moritz lachte hell auf.

„Es ist wirklich nicht zum Lachen, mein Jung’; Du hast Dich doch auch einmal gründlich verliebt, weißt Du? Und Andere haben auch Augen im Kopfe und junges frisches Blut in den Adern!“ Und bei diesen Worten hatte sie ihr sauberes Tüllhäubchen abgenommen, und sich über den spiegelglatten noch braunen Scheitel streichend, fügte sie hinzu: „Gieb mir die Haube mit den lila Bändern da aus meinem Schubkasten, Moritz. So, die ist’s, ich danke Dir, und nun wollen wir auch einmal in Musik schwelgen.“

Der große Mann hatte eben wieder den Schubkasten geschlossen und stiebte sich ein wenig Asche von seinem dunkelblauen Anzuge ab. „Ja, Mütterchen, wenn Du etwa Else meinst –“

„Ich meine gar nichts, Moritz. Begleitest Du mich?“

„Recht gern; schon damit Du siehst, daß dort keine Liebestränke credenzt werden, Du allzu ängstliches Mütterlein.“

Drüben im Salon brannten schon die Lichter und Lampen; man hatte gerade ein Concert von Kreutzer beendigt und befand sich in lebhaftem Gespräche darüber, als Mutter und Sohn eintraten. – Frieda saß am Clavier und probirte einige schwierige Tacte noch einmal; Lieutenant Bernardi hatte die Violine hingelegt und stand neben Else, die in einem Notenhefte blätterte. Annie Cramm und Tante Lott saßen in der Nähe des Fensters, sie hatten Alle dunkelrothe Wangen vor Eifer.

„Wir möchten ein paar Lieder hören,“ motivirte Moritz das unerwartete Erscheinen, und Tante Ratenow nahm mit einem sonoren „guten Abend, meine Damen, guten Abend, lieber Bernardi!“ in der Ecke neben Tante Lott Platz. Moritz mußte heimlich lächeln; eine Diplomatin war sie nicht, seine alte prächtige Mutter, sie ging stets gerade zu. Es machte ihm unsäglichen Spaß, sie zu beobachten.

Fräulein Annie Cramm ließ sich erbitten, zu singen. Else setzte sich still in die tiefe Fensternische, und ihr süßes Kindergesicht schaute unter den schweren blauen Gardinen hervor, die einen prächtigen Hintergrund bildeten für das blonde Köpfchen. Bernardi hatte sich an das entgegengesetzte Ende des Zimmers verfügt, er lehnte an Frieda’s Bücherschrank, im Schatten, gerade Else gegenüber.

„Ein bildhübscher Junge,“ gestand sich Frau von Ratenow, „so schlank und rank und von den besten Manieren; kein Wunder, wenn –“

Da setzte Annie Cramm’s hohe Stimme ein, diese Stimme, die so beängstigend wirkte bei der schmalen hochschulterigen Figur der Sängerin.

„Sehr schön, liebes Fräulein!“ spendete die alte Dame ihr Lob, „aber ich verstehe das nicht, es ist mir zu überirdisch.“

„Mamachen, welch Majestätsverbrechen, das war Wagner!“ rief Frieda.

„Kenne ich nicht!“ lautete die Erwiderung, mit unerschütterlicher Ruhe gegeben.

„Ja siehst Du! Weil Du nie mit uns in’s Opernhaus willst, Mamachen, wenn wir einmal in Berlin sind,“ klagte die junge Frau.

„Kind, ich bilde mir wirklich etwas ein auf meine Nerven, aber dort sage ich mir immer: Nein, die Heutigen sind uns doch über! Ich zittere schon nach dem ersten Act an allen Gliedern, habe nur den einen Gedanken: hören sie denn noch nicht bald auf? – Ihr, die Ihr immer von Nerven sprecht, könnt stundenlang so etwas aushalten! – Else, singst Du uns nicht ein einfach Lied?“

Das junge Mädchen mit den purpurrothen Wangen trat zum Clavier.

„Das alte Lied mit der neuen Composition können wir ja versuchen,“ schlug Frieda vor. Sie hatte innerlich einen kleinen Schüttelfrost ob der Ansichten ihrer Schwiegermutter, und durch die paar Tacte des Vorspiels klangen einige Mißtöne. Aber nun setzte eine weiche volle Altstimme ein:

„Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?
Nicht Vater noch Mutter, kein Glück und kein Geld,
Nichts weiter mehr hab ich bergab und bergan,
Als zwei braune Augen, daß weinen ich kann.

Es braust durch die Lande der herbstliche Wind,
Untreu ward der Liebste mir armen Kind,
Weil silbern kein Kettlein am Halse mir gleißt!
Ach, weiß es wohl Einer, was Sehnsucht heißt?

Dort unten rauscht’s Wasser, so tief und so hohl,
Könnt ich nur sterben, so wäre mir wohl! –
Drei Blümlein, drei Röslein, ein schneeweißes Kleid,
Da schlief ich wohl süße, ohn’ Wehe und Leid.“

„Brav, Else!“ sagte die alte Dame, und reichte dem Mädchen die Hand. Die Andern schwiegen – Bernardi hatte die Geige ergriffen und begann die einfache klagende Weise nachzuspielen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_074.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2023)