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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Da löste sich eine rothbraune Kuh aus der Heerde und stieg vom Wege hinweg dem Bache zu. Nannei eilte ihr nach – und die Begegnung von soeben war vergessen.

Das Dschapei aber schien an dem Wegelagerer ein größeres Interesse zu nehmen – und dieses Interesse schien ein gegenseitiges zu sein; denn der Bursche richtete sich in sitzende Stellung auf, lockte das Thier, das ihn mit schiefgehaltenem Kopfe und stillen Augen betrachtete, durch leise Zungenschläge zu sich heran, griff in die Joppentasche und hielt ihm dann auf den gestreckten Fingern ein weißes Etwas entgegen. Dschapei kannte das – hurtig kam es näher getrippelt und löffelte mit gieriger Zunge die leckeren Salzkörner von dieser sonnengebräunten, fremden Hand.

„Gelt, du – das schmeckt dir! No, wart’ nur – kriegst schon noch mehrer – wann’s amal an der Zeit is!“ murmelte der Bursche, wischte die feucht gewordene Hand an’s Gras, setzte den Hut mit der weiß gesprenkelten Weihenfeder über das braune Kraushaar und sprang auf die Füße.

(Fortsetzung folgt.)

Davos im Schnee.

Was für eine sonderbare Gesellschaft bietet sich unsern Augen dar! Herren in Strohhüten, Damen mit Sonnenschirmen auf einer Eisbahn, mitten im Schnee des Hochgebirgs! Hier treibt wohl der Carnevalsschalk seine Possen, der ja in unsern Großstädten „Stiergefechte“ und so manche „Italienische Nacht“ auf dem Eise der nordischen Seen und Flüsse arrangirt hat und nun den Schauplatz seiner Thätigkeit vielleicht in die Alpen verlegt? Keineswegs! Wir haben kein Maskenfest vor uns, die Tracht dieser Schlittschuhläufer entspricht durchaus, wie wunderbar es auch klingen mag, den klimatischen Verhältnissen, in welchen sie leben. Und es ist auch in der That ein wunderbares Klima, das in diesen Bergen herrscht, eine Wunder verrichtende Luft, die hier geathmet wird, denn wir schauen ein Stück vom herrlichen Davos, einem der berühmtesten klimatischen Curorte der Welt.

Wem ist heutzutage dieser Name nicht bekannt? Nach jenem Alpenorte werden die Lungenkranken von den Aerzten geschickt, um dort Heilung zu suchen. Das weiß Jedermann, und der Mehrzahl der Menschen dürfte es auch nicht fremd sein, daß diese Kranken, die wir zu Hause vor jedem kalten Windzug ängstlich beschützen, dort gerade den Winter zubringen – den Winter in einer Hochgebirgslandschaft, die etwa 5000 Fuß über dem Meeresspiegel gelegen, von hohen Bergen und Gletschern umringt ist! Schneegestöber, Lavinen, stürmische, eiskalte Sturmwinde u. dergl. m. tauchen sofort in unserer Phantasie auf, und wir bedauern die armen Kranken, die zu einem so trostlosen Aufenthalt verurtheilt sind. Aber wir irren, „Davos im Schnee“ ist gar nicht so schrecklich und öde, wie wir denken.

Vor zwanzig Jahren war dieser jetzt so weltberühmte Ort den Wenigsten bekannt. Denn daß Davos in den Bündener Kriegen eine nicht unbedeutende Rolle spielte, trug zur Verbreitung seines Namens außerhalb der Grenzen der Eidgenossenschaft nur wenig bei. Erst das Sturmjahr 1849 sollte die indirecte Ursache werden, ihm wirkliche Berühmtheit zu verschaffen.

In jenem Jahre commandirte ein „Heidelberger Schwabe“, der rothe Spengler, die Heidelberger akademische Legion, half dann, als Adjutant des General Siegel, das Gefecht am Waghäusel verlieren, wurde in contumaciam verurtheilt und flüchtete nach der Schweiz. Hier vertauschte er, auf den Rath des damals in Zürich lehrenden berühmten Physiologen Ludwig, die Juristerei mit der Medicin, studirte, promovirte und ging, gerade dreißig Jahre sind es her, als Landschaftsarzt nach Davos. Hier wirkte er nun, ganz abgeschnitten von der Cultur, inmitten der biedern, derben Landbevölkerung, reiche Erfahrungen sammelnd. Zu diesen gehörte auch die Beobachtung, daß ihm in langjähriger Praxis kein Fall von Lungenschwindsucht bekannt geworden war, während Davoser, welche als Zuckerbäcker etc. nach dem Tieflande ausgewandert waren und lungenkrank heimkehrten, auffallend schnell genasen.

Im Jahre 1861, nachdem ein Gasthof, das noch setzt existirende „Hôtel Strela“, eröffnet war, kamen die ersten Sommerfrischler, um die städtische Schwüle mit der reinen, kühlen Alpenluft zu vertauschen. Bekannter wurde Davos jedoch erst, als die Erfahrungen Dr. Spengler’s von Meyer-Ahrens in dessen „Balneologischen Spaziergängen in den Alpen“, und 1862 in der „Deutschen Klinik“ veröffentlicht wurden.

Inzwischen hatte auch Dr. Brehmer, in Görbersdorf in Schlesien, die klimatologische Heilmethode, mit manchen Erfolgen gekrönt, in Anwendung gebracht (vergl. Jahrg. 1880, S. 400). Dr. Unger, ein Leipziger Arzt, der, selbst lungenkrank, durch wiederholte Sommercur in Görbersdorf seine Heilung gesucht, aber nie ganz gefunden hatte, kam, durch die Spengler’schen Veröffentlichungen veranlaßt, am 8. Februar 1865 in Begleitung des ebenfalls leidenden Buchhändlers Richter nach Davos, um hier eine Wintercur durchzumachen. Heute nach 18 Jahren wirken beide, ersterer als beliebter Curarzt, letzterer als Hôtel- und Buchdruckereibesitzer, gesund und lebensfrisch am Orte.

Dem energischen Zusammenwirken der beiden Aerzte, Dr. Spengler und Dr. Unger, gelang es bald, der neuen Curmethode Ruf und Anerkennung zu verschaffen. Im Jahre 1866 wurde das große Curhaus gebaut, welches 1872 niederbrannte, jedoch erweitert und verschönt im nächsten Jahre wieder aufgebaut wurde. Von nun an vergrößerte sich der Curort rapid. Anfangs waren es vornehmlich die Sommermonate, welche die Leidenden zum Aufenthalt wählten, und nur zaghaft ging man daran, auch im Winter oben zu bleiben. Jetzt ist die Wintersaison die bei weitem lebhaftere: gegen tausend Curgäste bevölkern im Winter den Ort. Fünfzehn Hôtels, mit allem Comfort eingerichtet, viele Pensionen, Villen und Privathäuser bieten Raum für mehr als 1200 Fremde. Zahlreiche Bazare und Läden (die Inhaber sind meist ehemalige Curgäste) sorgen reichlich für alle Erfordernisse des Luxus und täglichen Bedarfes – kurz, aus dem einfachen, öden Gebirgsdorfe ist ein Curort ersten Ranges geworden. Und wahrlich, wenn man des Vormittags auf der Promenade vor dem Curhause lustwandelt und den Klängen der Musik lauscht und dies Leben und Treiben sieht, dies Sprachengewirr hört, dann glaubt man sich auf die Promenade von Baden-Baden oder Nizza versetzt, und erst die rings auf uns niederschauenden Bergriesen, der tiefe Schnee, der klare tiefblaue Himmel rufen es uns in’s Gedächtniß zurück, daß wir uns im Hochgebirge 5000 Fuß hoch über dem Meeresspiegel befinden, daß hier keine heilenden Quellen aus den Felsen rieseln, sondern nur die leichte klare Höhenluft als Heilmittel geathmet wird.

Wer sich über die Wirkung der Höhensanatorien näher unterrichten will, den müssen wir auf einen früheren Artikel der „Gartenlaube“ verweisen.[1] Was dort im Allgemeinen gesagt worden ist, gilt auch im Besonderen für unsern Curort.

Aber das Klima von Davos hat noch besondere Eigenschaften. Es gestattet den Kranken, bei niedriger Temperatur ohne Frostgefühl sich dauernd im Freien aufzuhalten, und die Wirkung der Sonnenstrahlen ist hier selbst im Winter so intensiv, daß der Kranke an windgeschützten sonnigen Orten sogar stundenlang im Freien sitzen kann. Ließ sich doch im December des Jahres 1882 eine kleine Gesellschaft im Hôtel Strela die Mittagstable d’hôte längere Zeit im Freien serviren.

Solche schöne Wintertage, wie sie in Davos häufig vorkommen, klingen fast unglaublich. Freilich giebt es auch solche, wo die Sonne theilweise von Wolken verhüllt ist, und wieder andere, wo es stürmt und schneit, ärger und toller, als unten im Tieflande, und Der täuscht sich gewaltig, der nur schönes Wetter erwartet. Aber das schlechte Wetter kehrt selten in diesem Hochgebirgsthal ein, um die Spaziergänge und Belustigungen im Freien zu unterbrechen. Zu den letzteren gehört hauptsächlich das schon oben erwähnte Schlittschuhlaufen.

Nachmittags von ein bis drei Uhr bildet die Eisbahn den Sammelpunkt der Curgesellschaft. Eine geschützte, nach Süden offene Veranda gestattet es, behaglich im Sonnenscheine den Mokka zu schlürfen und dem munteren Treiben zuzuschauen, das sich hier entwickelt. Es ist ein eigenthümliches und reizvolles Bild: diese Schlittschuhläufer und Läuferinnen, im einfachen Kleide, im Strohhute und Sonnenschirme, nach den munteren Weisen der Musik auf der spiegelglatten Fläche dahingleitend.

Bald bekommt man selbst Lust mitzuthun, und ist man nicht zu krank oder zu Blutungen geneigt, so gestattet der Arzt meist gern die gesunde Bewegung, ja oft verordnet er sie. Das stärkste Contingent der Läufer stellt freilich das Fridericianum, ein von Dr. Perthes gegründetes Pensionat für schwächliche Knaben, vornehmlich solche, bei welchen vererbte Anlage zur Lungenschwindsucht zu fürchten ist. Wahrlich, die muntere Schaar ist zu beneiden um das Glück, hier oben in der frischen gesunden Luft ihre Schuljahre verleben zu können.

Wie am Nachmittage die Schlittschuhbahn, so ist des Vormittags der Corso vor dem Curhause der Vereinigungspunkt aller Derer, denen der Arzt anstrengendere Spaziergänge verboten hat. Diejenigen freilich, die sich kräftiger fühlen, benutzen die bequemen, mit zahlreichen Bänken ausgestatteten, im Winter stets schneefrei gehaltenen schönen Waldwege, um, umduftet von dem aromatischen Geruche der Edeltanne, hinaufzusteigen zum Gemsjäger oder zur sonnigen Schelzalp und sich dort der weiten, herrlichen Aussicht zu freuen. Spazierfahrten zu Schlitten in die nähere und weitere Umgebung werden auch vielfach unternommen. Ein beliebter Sport, freilich nur für Gesunde, ist ferner das Schlitteln auf kleinen niedrigen Handschlitten. In sausender Eile geht es mit diesen den Berg hinab, und Alt und Jung betreibt dies mit besonderer Vorliebe. Von den zahlreichen, in Davos sich aufhaltenden Engländern werden sogar große Wettfahrten auf meilenlanger Bahn hinab nach Klosters mit ausgesetzten Preisen veranstaltet, und halb Davos wallfahrtet an diesen Tagen dahin, um diesem interessanten Schauspiele zuzuschauen.

So traurig, wie wir uns dachten, ist also der Winter in Davos keineswegs. Die Curgäste sind mit ihm auch recht zufrieden und warten nicht mit Sehnsucht auf das Erscheinen der Frühlingsboten, denn „wenn’s Mailüfterl weht“, so schmilzt auch in den Davoser Bergen der Schnee, und das Schmelzwasser überfluthet dann in solchen Massen die Straßen und das Mailüfterl braust so gewaltig durch das anmuthige Thal, daß die meisten Kranken auf einige Monate den liebgewonnenen Ort verlassen, und sich in der Regel erst dann wieder einfinden, wenn der eisige Monarch die Vorboten seines Erscheinens auf die Alm entsendet.


  1. (Schwindsucht und Höhenklima. Von Dr. Drivers. Jahrg. 1882, S. 562.)

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_067.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2024)