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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die nächstfolgende Generation dramatischer Dichter hatte schon einen schweren Stand. Am erfolgreichsten bewährte sich Friedrich Halm mit seinen Dramen: „Griseldis“, „Der Sohn der Wildniß“, „Der Fechter von Ravenna“, ja er stellte lange Zeit mit diesen Werken seinen österreichischen Collegen Grillparzer in den Schatten, der erst von Laube wieder entdeckt werden mußte, um dann mit dem ambrosischen Lichte seines Talentes und der Gaskrone seines großartig gefeierten Jubelfestes alle dichtenden Stammesgenossen zu überstrahlen. Die Dramen von Prutz und Mosen sind gänzlich vom Repertoire verschwunden; von Mosenthal’s größeren Dichtwerken behauptet sich nur „Deborah“, von Gutzkow’s Tragödien „Uriel Acosta“, von denen Laube’s „Graf Essex“.

Diese drei letzteren Stücke haben neben den classischen Wurzel geschlagen in dem Repertoire der Gegenwart und werden auch an den kleinsten Bühnen gegeben. In geringerem Maße gilt dies von einigen Dramen, welche indeß auf größeren Bühnen doch noch wiederholt zur Aufführung kommen: von Geibel’s „Brunhild“, Putlitz’ „Testament des großen Kurfürsten“, Lindner’s „Bluthochzeit“, von „Katharina Howard“ und „Mazeppa“.

Der Tragödie wird es schwer, durchzudringen; so lange die classischen Dramen noch begeisterten Anklang finden, kann man nicht einmal sagen, daß der Geschmack des Publicums sich ihr abgewendet habe; er verhält sich nur spröde gegenüber neuen Erscheinungen, denen nicht von Hause aus ein so glänzender Geleitbrief mitgegeben ist, wie den durch hundert Commentare verherrlichten Dichtwerken der großen Meister. Ja, wo der Autor nach dichterischer Bedeutung strebt, da pflegt die Kritik den strengsten Maßstab anzulegen, oder sie nimmt gar den Maßstab von den erfolgreichen ephemeren Tagesproducten und läßt dann manches treffliche Werk klanglos in den Orcus der Langenweile hinabgleiten, welche vielleicht der Kritiker selbst empfindet. Jede Kritik ist nicht blos eine Kritik des besprochenen Werkes; sie ist auch immer eine Selbstkritik, und wie geistig tief stehen oft die Tagesrecensenten unter dem Dichter, über dessen Werke sie zu Gericht sitzen!

Doch auch die tragischen Darsteller und Darstellerinnen, welche eine hochgestimmte Dichtung mächtig zu tragen wissen, sind in Deutschland gegenwärtig so selten, daß einzelne Fächer an ersten Bühnen gar nicht oder in ungenügender Weise besetzt sind. Ein jugendlicher Nächwuchs mag die „Essex“ und „Uriel Acosta“ zur Geltung bringen; aber die wuchtvollen Helden der Tragödie, die „Macbeth“, „König Lear“ und „Wallenstein“ sind auf den Aussterbeetat gesetzt. An gefühlsinnigen Gretchen und Clärchen ist kein Mangel; auch für „Maria Stuart“ und ähnliche Rollen, die an der Grenze des Hochtragischen stehen, reichen die geistigen und äußeren Mittel vieler Darstellerinnen noch aus; aber was über diese Grenze hinausreicht, das findet meistens nur versagende schauspielerische Kräfte.

Unter diesen Umständen wird es den jüngeren Tragödiendichtern nicht leicht, die Bühne für ihre Werke zu erobern; sie bleiben meistens auf die Buchdramatik beschränkt, die, von opferlustigen Verlegern gepflegt, bei uns gehörig in’s Kraut schießt. Selbst die Preisertheilungen, auch wenn sie von hochangesehenen staatlichen Commissionen ausgehen, sind meistens ein Schlag ins Wasser: welches von den Stücken, denen der Berliner Schiller-Preis zu Theil geworden ist, hat sich auf der Bühne erhalten? Einige sind nur höchst sporadisch, andere gar nicht zur Aufführung gekommen. Die deutschen Bühnendirectoren lassen sich einmal nicht imponiren: sie wissen, wo Bartel den Most holt, an der Casse nämlich; der Cassenrapport regiert die deutsche Bühne. Daran kann keine ästhetische Autorität etwas ändern.

Sehen wir uns indeß die dramatischen Dichter höheren Stils etwas näher an, die trotz aller dieser Hindernisse in jüngster Zeit mit ihren Werken auf die Bühne gedrungen sind.

Da begegnet uns zunächst Adolf Wilbrandt, der jetzige Director des Wiener Burgtheaters, eine liebenswürdige dichterische Individualität, feingebildet, geistig zart organisirt und doch des tragischen Pathos mächtig; ihm ist es gelungen, sogar mit Römertragödien auf der Bühne schöne Erfolge zu erringen. Sein bedeutsamstes Werk ist das Trauerspiel „Arria und Messalina“. Die Kritik hat viel daran herumgemäkelt; die geniale Wüstheit der Cäsarenzeit erschien zu treu in diesen Situationen abgespiegelt. Vielen war die Messalina zu lasterhaft; uns würde eher die Arria zu tugendhaft erscheinen. Doch den Maßstab für die Bedeutung eines Dichterwerkes können nicht derartige fertige Censuren an die Hand geben: das Stück ist ein kühner Wurf und zeugt von ungewöhnlicher Begabung. Daß die üppige Kaiserin Messalina den Sohn der tugendstrengen Arria in ihre Netze lockt, ist für den Gegensatz der beiden Frauen eine wohlerfundene Handlung; Marcus fällt nicht wie der „Fechter von Ravenna“ durch das Schwert seiner Mutter; aber er tödtet sich selbst, als ihm diese die ganze Schmach vorhält, der er verfallen ist. Die Römertugend der Arria und des Pätus, welche sich der Gewalt der verbrecherischen Kaiserin durch freigewählten Tod entziehen, ist mit starken Zügen gezeichnet, mit dem üppigsten und dämonischen Colorit aber der Charakter Messalina’s selbst ausgemalt, mit seiner ganzen Weltmüdigkeit und Blasirtheit und dem dithyrambischen Cymbelschlag unersättlicher Genußsucht: es sind Farben von Makart und Hamerling, mit denen Wilbrandt dies dramatische Gemälde ausgeführt hat.

In Charlotte Wolter fand er eine Darstellerin der Messalina, welche durch die geniale Kühnheit ihrer Darstellung damit Sensation machte und andere Tragödinnen zur Nacheiferung anspornte: hier zeigte sich wiederum, daß, wie die umherflatternden Insecten die Blumen befruchten, so die umherreisenden Darsteller vorzugsweise den Blüthenstaub neuerer Dichtung über die Bühnen verbreiten.

Wilbrandt’s zweite Römertragödie „Gracchus der Volkstribun“, an der Burg mit großem Erfolg, in Norddeutschland vorzugsweise bei Ludwig Barnay’s Gastspielen aufgeführt, in Wien mit dem Grillparzer-Preis gekrönt, hat dramatische Züge von markigem Gepräge und Scenen von großer Bewegung wie diejenige zwischen Gracchus und Scipio am Schlusse des dritten Actes. Weniger indeß seine Begeisterung für die Sache des Volkes als sein pietätvolles Streben, den ermordeten Bruder zu rächen, ist das Motiv für das Auftreten des Helden; überhaupt erscheint er durchweg als ein leidenschaftlicher Gemüthsmensch, nicht als eine erzene Römergestalt, wie man sich den tapfern Volkstribunen vorzustellen geneigt ist.

In „Chriemhild“, dem mit dem Schiller-Preise gekrönten Trauerspiele Wilbrandt’s, das aber nur über wenige Bühnen ging, hat der Dichter versucht, ein Nibelungendrama ohne Brunhild zu schreiben. Alle sagenhaften Motive sind beseitigt; dafür ist aber ein Shakespeare’sches Gespenst eingeführt, Siegfried’s Kopf, welcher Chriemhildens zögernden Entschluß durch sein bejahendes Nicken entscheidet, und die große Schlächterei im Schlosse Etzels, dies unvermeidliche wüste Schlußtableau aller Nibelungentragödien, entläßt die Hörer mehr mit dem Eindrucke des Gräßlichen als des Tragischen. Dafür ist der erste Act von bestrickender dichterischer Schönheit; auch die beiden andern enthalten Scenen, wie sie nur ein echter Poet zu schaffen vermag. Wie Wilbrandt sich als Schau- und Lustspieldichter zeigt, werden wir später sehen: in seinen Tragödien bewährt er ein hervorragendes Talent, einen ausgeprägteu Sinn für theatralische Wirkung und hohen dichterischen Schwung.

Beides, wenn auch das zweite in geringerem Maße, findet sich in den Werken eines Dramatikers, dessen Name, obschon er nur das dem großen Publicum eigentlich unbequeme Genre des Trauerspiels angebaut hat, in jüngster Zeit auf fast allen deutschen Theaterzetteln zu lesen war. Ernst von Wildenbruch hat sich im Sturm die Bühnen erobert, nachdem er lange Jahre hindurch mit großer Resignation die Kinder seiner Muse in seinem Pulte bewahren mußte, wohin sie stets zurückkehrten, nachdem sie vergeblich bei den Intendanzen angeklopft hatten. Sein dramatisches Talent hat einige Verwandtschaft mit demjenigen von Wilbrandt, besonders was die Gabe betrifft, die Vorgänge auf der Bühne effectvoll zu steigern; er hat jene scenische Anschauung, welche für den Dramatiker unerläßlich ist. Die Situationen, die er uns vorführt, weiß er kräftig und markig hinzustellen, aber die Motivirung schwebt oft in der Luft; den Charakteren fehlt die innerliche Vertiefung; er liebt das Herbe und Schneidige und erinnert im Ausdrucke mehr an die genialen Kraftdramatiker als an Schiller. Für Scenen des Affectes und der Leidenschaft besitzt er durchgreifende Kraft; nur bisweilen finden sich bei ihm Härten des Ausdrucks, schiefe und geschmacklose Bilder.

Das beste seiner Stücke in Bezug auf den dramatischen Aufbau ist „Der Mennonit“; es behandelt überdies ein interessantes Problem, dasjenige des persönlichen Muthes, der durch die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_044.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2020)