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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

darauffolgender Jahre durch sorgfältigere Ausführung des Angeeigneten und durch neue Aufnahmen bis zu gewissen Grenzen. Doch würden wir sehr irren, wollten wir nicht noch einen andern Bildungsfactor gelten lassen. Der junge Dorndreher ist vielfach der Schüler seines Vaters. In den Nachsommermonaten sitzt der Alte mit den noch immer die Lieblingsplätze des Standreviers theilenden Jungen, die längst selbstständig geworden sind, im anregenden Sonnenschein und läßt seine Weisen leise als getreue Nachklänge aus der Sommerzeit ertönen. Junge Vögel mit so eminenter Gedächtniß- und Nachahmungsgabe saugen da natürlich die, wenn auch in unterdrückter Art vorgetragenen, aber dennoch scharf genug ausgeprägten Gesänge tief in das musikalische Ohr ein und bilden sich später darnach größtentheils aus. Außerdem hören sie noch solche Vögel locken und singen, welche draußen bis in den Herbst hinein sich vernehmen lassen.

Gemäß unseren Erfahrungen müssen wir der Meinung entgegentreten, welche ebenfalls, wie so mancher andere Irrthum, in sehr verbreiteten Büchern ausgesprochen ist, daß der Dorndreher, alt eingefangen, schwer zu zähmen sei. Abgesehen von Individuen, die sich alsbald nach der Versetzung in den Käfig durchaus nicht stürmisch, sondern ziemlich ruhig, besonnen, wir möchten sagen, gewissermaßen heimisch betragen, haben wir auch sehr wilde Exemplare bald zu artigem Benehmen gebracht, dadurch, daß wir sie in das bewegte Treiben der Wohnstube an ein helles und doch dabei geborgenes Plätzchen versetzten. Bei solchen Polterern wurde natürlich immer erst abgewartet, bis sie in einsamer Stube entweder Käfer und Mehlwürmer oder rohes Fleisch angenommen hatten, während andere Exemplare vor unseren Augen sogleich das dargebotene Futter sich wohlschmecken ließen. Wohl giebt es entsprechend der Individualität anderer Vögel auch unter den Dorndrehern störrische Gefangene, die man am besten, sobald man hartnäckige Verweigerung der Annahme des Futters wahrgenommen hat, rasch und entschlossen wieder freilassen soll.

Solche Vorkommnisse sind aber äußerst selten. Wo täglich frische Ameisenpuppen zu erhalten sind, bewährt sich diese Nahrung als die gesündeste und den Gesang am meisten anregende. Es fällt auch nicht schwer, den Vogel gleich anfangs daran zu gewöhnen, wenn man von ihm nicht mehr verschmähte Mehlwürmer in kleine Stücke zerschneidet und den frischen Puppen beimischt. Oft schon nach wenigen Tagen erhebt dann der Vogel seinen Gesang und läßt ihn selten in den Stunden des hohen Tages verstummen. Dadurch, daß er an den Anblick der auf- und abwandelnden Menschen sich gewöhnt, wird die Gesangslust gesteigert. Besonders ist es das weibliche Personal, welches ihm sehr bald sympathisch wird, weil dieses ihn fortwährend umgiebt und nicht beunruhigt und ängstet. Scheinbare Gleichgültigkeit der Umgebung zähmt ihn, wie ja auch die übrigen Stubenvögel, am leichtesten. Die Unterscheidungsgabe, welche er den mannigfaltigen Erscheinungen in seiner Nähe gegenüber beweist, zeugt von Intelligenz.

Dank diesen seinen Eigenschaften ist der Dorndreher in letzter Zeit ein sehr beliebter Stubenvogel geworden, und dies gab Gelegenheit, einen tiefern Einblick in sein Wesen zu gewinnen.

Ganz gegen Erwarten sind jedoch Versuche mißlungen, aufgefütterte Nestlinge zu Meistersängern dadurch heranzubilden, daß man sie mit vielen ausgezeichneten Singvögeln zusammenbrachte. Sie reichten nicht entfernt an die Meisterschaft der alten Wildfänge hinan. Der Einfluß des Freilebens auf die Entwickelung und Ausbildung des Gesangs wird also hier durch die sorgfältigsten künstlichen Veranstaltungen nicht ersetzt.

Karl Müller.     

Das neue deutsche Bühnendrama.

Von Rudolf von Gottschall.
I.

Wie steht es mit dem deutschen Theater? So viele Klagen werden darüber laut; doch noch immer ist es eine Culturmacht, und jeder aus dem Publicum hat doch ein stärkeres oder schwächeres Interesse dafür. Es ist wahr, von einem Aufschwung der Bühne ist nichts zu merken, aber auch viele Klagen über den Verfall derselben sind übertrieben.

Am wenigsten kann ein Vergleich mit dem Theater unserer classischen Epoche für das unserige ein so niederdrückendes Resultat ergeben. Die Stücke Lessing’s und Schiller’s kamen damals wohl zur Aufführung; aber sie beherrschten nicht das Repertoire; Goethe’s Dramen wurden sehr selten gegeben; einige machten bei der Aufführung Fiasco, wie „Die natürliche Tochter“ in Berlin. Schiller selbst klagt darüber, daß es nur Festtage der Theater seien, wenn seine Stücke gegeben würden; das Alltagsrepertoire, welches für das tägliche Unterhaltungsbedürfniß des Publicums sorgte, setzte sich aus den Stücken von Iffland, Kotzebue und anderen zum Theil namenlosen und heute vergessenen Poeten zusammen. Diese überwiegende Herrschaft des Familiendramas, das oft in’s Criminaldrama überging, hat Schiller selbst in seiner Parodie „Shakespeare’s Schatten“ gegeißelt.

Es ist keine Frage, daß Schiller’s Trauerspiele jetzt viel häufiger gegeben werden, als zu Lebzeiten des Dichters; manche Bühnen veranstalten sogar Schiller-Cyklen, in denen die Werke des großen Dichters hinter einander und gewissenhaft in ihrer Zeitfolge zur Darstellung kommen. Auch von Goethe-Cyklen weiß die Chronik der deutschen Theater zu berichten; wer dachte damals an eine Aufführung von Goethe’s „Faust“? Und als man kurz vor dem Tode des Dichters daran zu denken begann, da handelte es sich nur um den ersten Theil; der zweite, der eben erschienen war, blieb schon bei der Lectüre eine harte Nuß und Niemand hätte gewagt, sie durch ein Theaterpublicum knacken zu lassen. Von Shakespeare wurden nur die großen Meisterwerke aufgeführt; von einer Aufführung des Historiencyclus war nicht die Rede. Schiller, durch die Lectüre desselben begeistert, sprach einmal davon in einem Briefe; doch es war nur ein zufälliger Bühnengedanke, eine Art von Zukunftstraum – keiner der damaligen Bühnenleiter hätte sich daran gewagt, diese Historien im Zusammenhang zu geben; man kannte überhaupt damals die Cyklen nicht. Welche Cyklen sind neuerdings mit Shakespeare’schen Lustspielen gemacht worden! Die unmöglichsten hat man eingerichtet, von den besseren gehören einige zum eisernen Inventar unserer Bühne.

Kurz, das Repertoire unserer classischen Epoche war bei weitem nicht so classisch, wie das heutige ist; freilich hatten die Dichter auch damals freie Hand; die Tradition mit ihren berechtigten Meisterwerken und ihrem unberechtigten Wust lastete nicht auf ihnen. Das ist heute ganz anders! Die Summe jener classischen Werke beherrscht die Bühnen; ein neues Dichterwerk muß sich durch sie hindurchdrängen, wenn es Platz finden soll. Die Bühnenleiter, besonders die vornehmen, glauben der ernsten Dichtung die nöthige weihevolle Beachtung gesichert zu haben, wenn sie jene Werke zur Aufführung bringen; geben sie gar den ganzen Goethe’schen „Faust“ an zwei oder drei Abenden, oder lassen sie eine ganze Woche lang allabendlich die Sporen der Shakespeare’schen Könige, Fürsten und Ritter über die Bretter klirren, so haben sie einen Ueberschuß von guten Werken, der ihnen den Glorienschein des feinen Kunstsinns einbringt.

Hierzu kommt, daß die Zahl der classischen Bühnendichter sich neuerdings vermehrt hat: Heinrich von Kleist, der bei Lebzeiten keines seiner Stücke auf der Bühne sah, der Liebling der Essayisten, die sich an ihm ihre kritischen Sporen verdienen, ist jetzt in ihre Reihe miteingerückt, und die Ehrenrettung dieses bei Lebzeiten so erfolglosen Dramatikers erstreckt sich nicht blos auf seine besten Stücke; man experimentirt mit ihm wie mit Shakespeare und bringt auch seine gewagtesten dramatischen Dichtungen auf die Bühne. Außer ihm ist auch der österreichische Classiker Grillparzer unter die Unsterblichen aufgenommen worden, welche jede Direction respectiren muß.

Die Werke dieser Dichter bilden das Stammrepertoire der großen Hof- und Stadttheater, das Repertoire der berühmten Gastspieler und dasjenige, aus dem in der Regel die Debütrollen der Tragöden gewählt werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_043.jpg&oldid=- (Version vom 29.2.2024)