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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


„Elschen! Herzenskind!“ tönte es zurück. Ja, sie war wieder daheim, hier wurde sie erwartet. Ach, es ist zu schön, heim zu kommen, heim zu kommen aus der Fremde!

„Gott im Himmel! Ich hätte Dich beinahe nicht wiedererkannt, Else; nur die Augen sind’s noch!“ rief Tante Lott, nachdem sie das Mädchen aus den Armen gelassen.

„Herzenstante, ich bin gewachsen, nicht? Ich bin aber auch achtzehn Jahre!“

„Komm, komm! Nimm den Mantel ab; so – und hier, siehst Du, der Thee ist gleich fertig. Freilich, achtzehn Jahre, Kindchen! Ich habe Dir es ja auch gesagt in dem Gedicht zu Deinem Geburtstage, was das heißt für Unsereins.“ Und Tante Lott stand mit der Theekanne vor dem lächelnden rosigen Mädchen und declamirte:

„Achtzehn Jahre! Lenzeszauber,
Der dich einmal nur begrüßt
Halb erschloss’ne Rosenknospe,
Die die Frühlingssonne küßt –“

„Ach Tante, und ich freue mich so auf das Leben,“ unterbrach das Mädchen die alte Dame. „Wenn ich über den Büchern saß und mir’s so schwer im Kopfe war, daß gar nichts mehr hinein wollte, dann dachte ich an all das Schöne, das ein Jeder erleben muß, an die Jugendzeit, die vor mir liegt. Schwester Beate sagte es immer: jedem Menschen hat der Himmel einen Antheil Glückes zugesichert. – Ach Tante, wie freue ich mich auf meinen Antheil, ich konnte es kaum noch erwarten, aus der Schulstube zu laufen!“

Tante Lott schenkte hastig Thee ein; sie war auf einmal mitten in einem Traum von Frühling und Nachtigallenschlag – sie war doch auch einmal jung gewesen, und dort saß ja der verkörperte Lenz in ihrem Stübchen! Wie war sie hübsch geworden, die Else, wie thaufrisch schaute das junge Gesicht in’s Leben, wie viele, viele Hoffnungsknospen blühten hinter der glatten weißen Stirn und zauberten Glanz in die Augen und Freude in das Herz.

„O, die Jugend!“ flüsterte die alte Dame.

„Achtzehn Jahr! In’s ärmste Leben streut es seine Freuden ein,
Füllt der Zukunft dunkle Thäler ganz mit goldnem Sonnenschein –“

(Fortsetzung folgt.)

Thier-Charaktere.

Von Adolf und Karl Müller.
Der rothrückige Würger oder der Dorndreher, Neuntödter (Lanius collurio).

Die Würger nehmen in der gefiederten Welt eine Zwischenstellung ein und bilden den Uebergang von den Singvögeln zu den Raubvögeln. Für ihre Verwandtschaft mit letzteren spricht entschieden schon die Aehnlichkeit in der Schnabelbildung, insbesondere der seichte Ausschnitt an der Spitze des Oberkiefers und das Vermögen wie die ausgesprochene Neigung, den Raub unter einen Fuß zum Zwecke des Zerlegens zu nehmen. Innerhalb der verschiedenen Arten zeigt sich jedoch die Raubnatur mehr oder weniger ausgeprägt und vorwaltend. Am meisten tritt sie bei den großen Arten hervor, bei dem Raubwürger und dem Grauwürger, weniger bei dem Rothkopfwürger und dem rothrückigen Würger. Der Raubwürger „rittelt“ auch ganz in der Weise der Raubvögel, um aus der Höhe sich auf die Thiere zu stürzen. Er steht dabei, wie der Sperber, aufrecht in der Luft unter eilenden Schlägen der ausgespannten Flügel und wechselt in kurzen Entfernungen seine Lauerstände. Sein Raub erstreckt sich über Mäuse, Lurche, Insecten und vorzugsweise im Winter über Vögel bis zur Größe der Amsel, die er bei Schnee und Kälte hinterlistig überfällt, während die kleineren Würgerarten vorzugsweise aus der Insectenwelt ihre Nahrung nehmen. Entsprechend dem Bedürfnisse des bei uns überwinternden Standvogels ist der Raubwürger denn auch mit einer viel derberen, den Witterungseinflüssen kräftiger widerstehenden Natur ausgerüstet, als unser Dorndreher oder Neuntödter, mit welchem wir es hier besonders zu thun haben. Der Dorndreher zeigt uns ein hochinteressantes Vogelcharakterbild, eine unverkennbare Doppelnatur, von der bald die eine, bald die andere Seite zur Herrschaft kommt. Mit dem Rothkopfwürger hat er noch die sprechendsten Züge der Singvögel gemein, er nimmt sogar unter den Sängern, welche den Potpourrigesang vertreten, die höchste Stelle ein. Mit den Singvögeln theilt er die Liebe und das Bedürfniß für Sonnenlicht und Wärme so entschieden, daß er erst in der ersten Hälfte, und zwar nicht gleich am Anfange des Mai bei uns erscheint und schon im September in die Fremde zieht. Die Frostschauer der Mainächte oder die rauhen Nord- und Ostwinde berühren ihn so empfindlich, daß er mit aufgeblasenem Gefieder traurig die geschütztesten Lagen seines Standreviers aufsucht und unter der Nahrungssorge ein klägliches Aussehen bietet.

Vielseitig sind diese Standorte seines Sommer- und Familienlebens. In Gärten, Parkanlagen, Remisen, Feldhecken, an Dornhagen, Waldrändern mit niederem Gebüsche, ja selbst etwas tiefer im Walde in jungen Hegen an Wiesen und Waldwegen, am liebsten aber stets an Plätzen, wo dichtes Dorngebüsch wuchert, läßt sich das Männchen mit dem in der Regel gleichzeitig ankommenden Weibchen nieder. Seine Art ist zahlreich vertreten und macht sich durch die Neigung des Lauerns auf hervorragenden, hohen und niederen Zweigen, sowie durch seine auffallende Färbung überall dem guten Auge bemerklich. Er gehört zu den volksthümlichen Vögeln. Die Zusammenstellung der Farben beim Männchen ist eine wirkungsvoll schöne. Oberkopf, Hinterhals, Bürzel und die oberen Schwanzdeckfedern sind hellaschgrau, die übrigen Theile der Oberseite glänzend rostroth. Ein schwarzer Streifen zieht sich über die Stirn und durch die Augen. Backen, Kinn und Kehle sind weiß, ebenso die unteren Schwanz- und Flügeldeckfedern, die Schwingen schwarzbraun, die hinteren Armschwingen rostroth gerändert. Die schwarzen Schwanzfedern sind von der Wurzel zur Hälfte weiß, die vier äußersten haben einen schmalen, weißen Rand an ihren Enden. Die Unterseite zeigt ein schönes, sanftes Rosa. Unscheinbar ist dagegen das Weibchen gefärbt. Seinen Namen Dorndreher verdankt dieser der Eigenthümlichkeit, Käfer, Eidechsen und junge Mäuschen öfters an Dornen aufzuspießen.

Das Volk hat ihn auf Grund dieser Vorliebe auch Neuntödter genannt, weil zufällig die Anzahl von neun Käfern hier und dort an Dornbüschen angespießt gefunden wurde. Merkwürdiger Weise liest man selbst in guten Naturgeschichtswerken, daß der Dorndreher so verfahre, um für rauhe Tage Nahrung aufzuspeichern. Die Unterlegung einer solchen Absicht beruht auf ganz falscher und willkürlicher Deutung. Denn der Vogel befriedigt mit diesem Unternehmen nur ein Bedürfniß vererbter Gewohnheit und thut es immer zur Zeit, wo er Ueberfluß an Nahrung hat und seine Raubnatur ihn über das Maß seines Nahrungsbedürfnisses hinausführt, angeregt durch die lebendige Beute um ihn her. Spießt er doch auch in der Gefangenschaft Käfer und Fleischbrocken an spitze Gegenstände an! Gewöhnlich vertrocknen die Käfer an den Dornspitzen und werden von ihm nicht weiter beachtet. Uebrigens bedient er sich beim Tödten von Eidechsen ebenfalls der Dornen wie der Füße zum Festhalten. Hierbei verfährt er ebenso praktisch wie ausdauernd. Die Eidechse im Schnabel, reckt er sich hoch empor und sucht diese alsdann von oben durch Niederziehen an der Dornspitze einzuhaken. Die zähe Haut des Amphibiums leistet Widerstand, und darum währt es oft lange, bis er sein Ziel erreicht. In Folge dessen ermüdet der Vogel, ruht einige Augenblicke aus und geht dann wieder frisch an’s Werk, einen unverkennbaren Zorn dem Hindernisse entgegensetzend und unruhig die Stellung verändernd.

Die kleineren Käfer und sonstigen Insecten nimmt der Dorndreher nicht unter den Fuß, sondern verschlingt sie unmittelbar nach dem Fange. Am häufigsten stürzt er sich von den freien Zweigen des Gebüsches und der Bäume auf die Beute am Boden. An sonnigen Tagen jagt er aber auch dem fliegenden Insect nach, welches er auf Entfernungen von dreißig bis vierzig Schritt wahrzunehmen vermag. Mäuse bilden nur einen verschwindend geringen Theil seiner Nahrung. Er überfällt sie mit gesträubtem

Gefieder und ausgebreiteten Flügeln, indem er derbe Schnabelhiebe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_040.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)