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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 3.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Als die Sonne am folgenden Morgen sich mühsam gegen acht Uhr durch die Wolken gerungen, da sah sie in ein blasses Kindergesicht, das mit großen fragenden Augen aus dem Fenster eines Wagens schaute, der rasch auf der Landstraße dahin rollte. Im Fond saß eine blühende runde Frau in schwarzem Sammetmantel und ein wohlbeleibter kleiner Herr, und zwischen sich hatten sie ihr strohblondes, stumpfnäsiges Töchterchen – sie brachten es in das altberühmte D.’sche Institut auf ein paar Jahre. Jedes der Eltern hielt eine der kleinen Hände, und an den Augen der Mutter sah man noch, wie bitterlich sie geweint. Else saß allein auf dem Rücksitz neben sämmtlichem Handgepäck, und vor der Seele des Kindes stand es finster und schwer, das weite unbekannte Leben, in das die kleinen Füße heute den ersten Schritt gethan.

Acht Jahre waren dahingegangen seit jener Zeit, und nicht spurlos an den Menschen in dem kleinen märkischen Städtchen.

In seinem ungemüthlichen Wohnzimmer der Rosengasse saß noch immer rauchend und lesend der Major von Hegebach, und noch immer kochte die alte Siethmann ihren abscheulichen Kaffee; aber der Major wanderte nicht mehr so regelmäßig in den Club, wie einst, das Gehen wurde ihm schwer, er hinkte; die fatale Gicht hatte ihm auch noch die einzige Abwechselung verkümmert, die er bis jetzt gehabt, und seine Laune war nicht verbessert dadurch. Die alte Siethmann hatte es schwerer noch als sonst, aber sie empfand es nicht so, denn sie war stumpfer geworden, und außer ihrer Kaffeekanne existirte kaum noch etwas auf der Welt, das ihr Interesse einzuflößen vermochte, vielleicht die Else ausgenommen.

Regelmäßig alle vier Wochen hatte auf dem Schreibtische des alten Mannes ein Briefchen gelegen, und die Schrift war aus einer unbeholfenen Kinderhand allmählich in eine feine, elegante und doch nicht charakterlose Frauenschrift übergegangen. Er hatte nur einmal geantwortet, das war, als Else confirmirt wurde, und da hatte der Brief sogar in einer Schachtel gelegen neben einem schlichten Halsbande aus glührothen Granaten: der einzige Schmuck, den die verstorbene Mutter besessen.

Es war ein innig dankbarer Brief darauf gekommen mit dem kindlichen Versprechen, dem lieben Papa stets eine folgsame Tochter sein zu wollen. Und nun, heute, lag wieder ein kleiner Brief vor ihm:

„Mein lieber, verehrter Papa!

Du bist der Erste, der es wissen soll, daß ich das Examen mit Nr. 1 bestanden habe! – Die Vorsteherin ließ mich eben rufen, um es mir zu sagen. Ich bin so glücklich und so froh darüber, und alle Mühe ist vergessen. Ich komme nun schon in wenigen Tagen, mein lieber Papa, und es freut sich von Herzen auf ein Wiedersehen
  Deine treue Tochter Else.“

Er hatte den Brief gelesen und wieder gelesen, und sein Gesicht war noch ernster darob geworden. Und während er noch grübelte, waren auf der Burg zwei alte Frauenhände emsig beschäftigt, das Zimmer für den heimkehrenden Liebling zu schmücken. Tante Lott und Tante Ratenow hatten dieselbe Jubelnachricht mit der zweiten Post bekommen, und Erstere hatte sich sofort an ein rasches Instandsetzen der ehemaligen Kinderstube des jungen Mädchens gemacht; es war ja selbstverständlich, daß sie hier oben wieder hausen würde.

Drunten im Wohnzimmer der alten Frau von Ratenow hatte sich nichts verändert im Laufe der Jahre, nur sie selbst war etwas corpulenter geworden und das Gesicht zeigte vielleicht noch ein wenig schärfer den Ausdruck unbeugsamen Willens und rascher energischer Thatbereitschaft. Und doch war etwas Neues hier, das dem behaglichen Gemache mit dem weichen Teppiche, den schweren blauen Vorhängen und dem blitzenden alten Bronzegeräthe einen unendlich anheimelnden trauten Charakter verlieh. Vor dem Kamine, in welchem ein Herbstfeuer flackerte, hockten spielend drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, zwei blonde blauäugige Dirnen mit der rosigen Gesichtsfarbe und der unleugbaren Aehnlichkeit des Vaters, und ein brünetter Schelm von Jungen, das Allerjüngste. Es war ein Jubeln und Kichern dort, daß allen anderen Menschen, als eben einer Großmutter, die Ohren weh gethan haben würden. Frau von Ratenow schien indeß nicht zu hören; sie las eben einen Brief, ließ ihn sinken, und las dann wieder weiter.

„Lulu!“ rief sie, „hole mir einmal fix den Papa.“

Das Aelteste, ein schlankes Mädchen von fünf Jahren, sprang auf und lief eiligst hinaus. Ein Weilchen darnach trat, wie schwebend, eine kleine, unendlich zierliche, ganz in elegantes Schwarz gekleidete Frauengestalt unter den blauen Portieren hervor, die von den Kindern mit lautem Zurufe: „Mama! Mama!“ begrüßt wurde.

„Ihr goldigen Herzchen,“ sagte sie, die Kinder küssend, und dann zu Frau von Ratenow lebhaft neugierig: „Moritz kommt gleich, Mama – was giebt es denn?“

„Heißt Du ‚Moritz‘, kleiner Naseweis?“ fragte diese, wohl nicht unfreundlich, doch auch nicht gerade sehr erbaut.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_037.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2020)