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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

und kräftiger die quellenhaften Zuflüsse aus allen Lebenskreisen strömen, desto mehr wird es der Historik möglich, ihrem Berufe gerecht zu werden, d. h. vollständige Zeitbilder zu schaffen und sich aus der Tiefe einseitiger Staatsgeschichtschreibung zur Höhe einer allseitigen Aufhellung und Darstellung der Kulturgeschichte aufzuschwingen.

Es ist anzuerkennen, daß in neuerer und neuester Zeit auch auf den sogenannten Höhen der Gesellschaft allmälich die Erkenntniß platzgegriffen, mit der wirklichen oder bloß geheuchelten sogenannten vornehmen Gleichgiltigkeit gegen die öffentliche Stimmung und Meinung ginge es nicht mehr. Man empfand und empfindet auch dort das Bedürfniß, mit den Zeitgenossen und den Nachlebenden sich auseinandersetzen, um vor der Nachwelt eine möglichst gute Figur zu machen. Diesem Bedürfniß hat unter anderen auch der alte Metternich nachgegeben, indem er anordnete, daß nach seinem Ableben eine vielbändige und prächtig gedruckte Rechtfertigung seines staatsmännischen Thuns und Lassens dem Publikum vorgelegt werde unter dem Titel „Aus Metternichs nachgelassenen Papieren“. Dieses Memoirenwerk, auf dessen große Mängel und viele Schwächen einzugehen hier nicht der Ort ist, enthält zweifelsohne wichtiges Material zur Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber wir haben es unserseits nicht so fast mit dem Fürsten als vielmehr mit der Fürstin Metternich zu thun, als der Verfasserin der deutsch-geschriebenen Tagebücher, welche in dem zweiten Theil vom 7. Band der „Nachgelassenen Papiere“ (1883) einen breiten Raum einnehmen.

Die Ungarin Melanie Zichy war die dritte Frau des weiland Haus-, Hof- und Staatskanzlers und hatte als solche natürlich in der sogenannten vornehmen Welt Oestreichs und Europas einen großen Stand. Demzufolge und da sie des vollen Vertrauens ihres Gemahls genoß, konnte sie viel wissen von der Zeitgeschichte, - wenigstens soweit diese im Kabinett des Ministers, bei Hofe und in Diplomatencirkeln sich abspielte. Sie konnte viel wissen, sag’ ich, aber sie wußte nicht viel. Wenn man den Gehalt ihrer Tagebücher zum Maßstab nehmen wollte für den Einsichts- und Bildungsgrad der sogenannten höheren und höchsten Gesellschaftskreise, müßte sich ein recht niedriges Resultat ergeben, ja geradezn ein Armuthszeugniß.

Die Fürstin Melanie Metternich hat, wie Wissende versichern, ihre Rolle als „große Dame“ ganz geschickt durchgeführt, obzwar ihr hochfahrendes Gebaren nicht eben vielen Menschen sympathisch sein mochte. Aber ihr geistiger Gesichtskreis war von fast unglaublicher Enge und ihre Bildung ging über den konventionellen „vornehmen“ Schliff und Schick nicht hinaus. Ihre Auszeichnungen weisen keine Spur auf, auch nicht die leiseste, von einem Einblick in die Ideenströmung des Jahrhnnderts, in die Zustände und Stimmungen der Völker, in die Bedürfnisse und Forderungen der Zeit. Wenn in Sachen der Politik die Fürstin als eine gedankenlose Nachbeterin der metternichigen Stabilitätstheorie und als eine leidenschaftliche Verehrerin der absolutistischen Staatspraxis sich gibt, so mag das, angesehen ihre Herkunft, Erziehung und Stellung, begreiflich und auch verzeihlich sein. Aber wahrhaft erschreckend ist die vollständige Gleichgiltigkeit, welche die „große Dame“ allen höheren Dingen, allem Idealen, allen geistigen Interessen gegenüber an den Tag legt. Muß es doch schon als recht charakteristisch bezeichnet werden, daß in den vorliegenden, von 1844 bis 1848 reichenden Tagebüchern einer Oestreicherin ein Grillparzer, ein Lenau, ein Anastasius Grün niemals genannt werden. Ebenso niemals Lessing, Göthe und Schiller. Niemals ist überhaupt von der Beschäftigung mit Fragen der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst die Rede. Nichts als das öde, blöde höfische Gethue, d. i. Nichtsgethue, die Verplemperung des ganzen Daseins mit lauter Nichtigkeiten, geistverlassener Repräsentanz, Liebhabertheaterzeug, Kinderbällen und sonstigem Firlefanz. Kein Wunder, daß in diese Welt des jämmerlichsten Scheins, der Unkenntniß, Verblendung und Verstockung die Wirklichkeit des Sturmjahres 1848 wie eine platzende Riesenbombe hereinbarst.

Im übrigen hatte die Fürstin Metternich - ich spreche von ihr stets nur in ihrer Eigenschaft als Tagebüchlerin - auch ihre gute Seite. Wenn sie beschränkt und kenntnißlos genannt werden muß, so darf man ihr dagegen die Tugend der Ehrlichkeit, den Vorzug der Aufrichtigkeit nicht absprechen. Sie spielt in ihren Aufzeichnungen nicht Komödie, sie „posirt“ nicht. Sie gibt sich, wie sie ist, eingemauert in ihr hochmüthig-junkerliches Bewußtsein; aber sie sagt freisam und geradheraus, wie sie fühlt und was sie meint. Ihre Wahrhaftigkeit ist keiner Anzweifelung zu unterstellen, und darum besitzen nicht wenige Stellen ihrer Tagebücher den Werth einer zuverlässigen geschichtlichen Quelle. Namentlich insofern, als die naive Offenherzigkeit der Fürstin uns eine deutliche Vorstellung gibt, wie man in ihrer Lebenssphäre Menschen und Dinge ansah und beurtheilte.

Da schrieb Frau Melanie z. B. im April 1845 in ihr Tagebuch: „Klemens (Metternich) hat durch die Niederlage der Freischaren in der Schweiz einen politischen Erfolg errungen. Die kleinen Kantone, Luzern an der Spitze, verrichteten Wunder der Tapferkeit; sie entledigten sich der Umsturzpartei, die alles zerstören will, was sich dort Gutes findet, und benahmen sich nach ihrem Siege mit großer Klugheit, Mäßigung und Umsicht.“ Jedes Wort eine Unwahrheit! Im November 1847 schrieb sie dann: „Mit dem Sonderbund ist’s aus und der Radikalismus feiert einen vollständigen Triumph, dessen Folgen sich bald in unerträglicher Weise fühlbar machen werden. Inzwischen berathet man, wie zu helfen sei. Klemens läßt den Muth nicht sinken, mit der Gefahr steigt die Kraft seines Widerstandes.“ Wirklich? Nun, wir werden ja bald sehen, was es mit der „Kraft“ des metternichigen „Widerstandes“ auf sich hatte. Uebrigens dürfen wir es der Frau Fürstin nicht übelnehmen, daß sie von den schweizerischen Verhältnissen und Ereignissen nichts verstand. Ihr Herr Gemahl verstand ja auch nichts davon, verstand davon gerade so wenig wie der dünkelhafte Schulmeister Guizot, welcher sich mit ihm zur Aufrechthaltung des schweizerischen Sonderbundes verbündet hatte. Es ist ganz märchenhaft, welche schweren Bären die beiden „großen“ Staatsmänner durch ihre stupiden bei der Eidgenossenschaft beglaubigten diplomatischen Agenten sich aufbinden ließen. Sie fackelten und faselten auch noch gravitätisch darüber hin und her, wie der schweizerische Liberalismus exemplarisch zu züchtigen wäre, als schon unter ihren eigenen Füßen der Boden bedrohlich schwankte. Was war doch das für eine Staatsmännischkeit, welche nicht weiter sah, als ihre Nasenlänge reichte, nichts hörte als ihre eigenen hohlen Phrasen und zu Werkzeugen die dümmsten Gesellen auserkor? Das war eben die „große“ Staatsmännischkeit der Metternich, Guizot und Kompagnie.

Am 1. Januar von 1848 schrieb die Fürstin: „Dieses Jahr fängt nicht sehr trostreich an.“ Dann jammert sie, daß der König von Neapel, der König von Sardinien und sogar der Großherzog von Toskana Verfassungen gegeben hätten; denn so „fällt Italien auseinander“. Das Beieinander Italiens kann sie sich nämlich nur in der Form östreichischer Zwingherrschaft denken. Von dem Rechte der Italiener, eine Nation sein zu wollen, hat sie natürlich keine Ahnung. Weiterhin: „Klemens ist bewundernswerth, so unerschrocken, aber bisweilen sehr aufgeregt.... Alle Welt scheint in Schlaf versunken und mit Blindheit geschlagen. Schließlich verzweifelt man an allem.... Bei Hof ist man auch sehr besorgt und heute sucht man sein Heil beim armen Klemens, den man gern verantwortlich machen möchte für von anderen seit Jahren begangene Fehltritte.“ Aha? Die Frau Fürstin findet die Situation des „armen, unerschrockenen, bewundernswerthen“ Klemens nicht mehr geheuer und bemüht sich als die zärtliche Gattin, welche sie ist, die Schuld des herrlichen metternichigen Stabilitätssystems, welches in seinen Fugen kracht, „anderen“ zuzuschaufeln.

Nach der Verkrachung des Julikönigthumsschwindels am 24. Februar sollte nun der hochgelobte metternichige Stabilitätsschwindel, dessen Aktien an den absolutisttschen Börsen so lange hohen Kurs gehabt hatten, die Probe seines wirklichen Werthes und seiner Dauerbarkeit bestehen. Man weiß, wie sie bestanden wurde, d. h. über allemaßen jammerhaft. Diese Stabilitätsmänner, welche so oft und so übermüthig sich vermessen hatten, der „Hydra der Revolution“ alle ihre sieben Köpfe zertreten zu haben, wurden schon durch den Schatten, welchen die Revolution vor sich herwarf, mit kläglicher Ohnmacht geschlagen.

Um 5 Uhr Nachmittags am 29. Februar brachte, wie uns die Fürstin erzählt, der Baron Rothschild eine aus Paris eingelaufene telegraphische Depesche in die Staatskanzlei, woraus die Katastrophe Louis Philipps zu ersehen war. Dazu bemerkt die Tagebüchlerin, welche für die Orleans keine Sympathie hatte: „Die göttliche Gerechtigkeit ist erschrecklich.“ Dann, etliche Tage

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_026.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2020)