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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 2.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

So wuchs es auf, das Kind, in dem alten lindenumschatteten Hause, das aus den Trümmern und auf die Trümmer einer Burg erbaut war, welche die Schweden im Dreißigjährigen Kriege niedergebrannt hatten. Noch stand im Garten ein riesiger dicker Thurm, noch zogen sich Wall und Gräben um das feste Gebäude, im Frühjahr wie übersäet von blauen Veilchen, noch gab es einen alten Ziehbrunnen im Garten und ein Burgverließ und schauerliche Spukgeschichten in Menge. Schon lange war es im Besitz derer von Ratenow, und an diese war es einst durch Heirath gefallen; ein Ratenow hatte damalen eine Burgsdorf gefreit, die letzte ihres Stammes.

Wenn die klaren Augen des Kindes aus dem Fenster sahen, so schauten sie über den weiten Hof mit seinen Stallungen und Scheuern hinweg zu den mannigfach gestalteten Dächern und Thürmen des Städtchens hinüber; nahe dem Rathhausthurm unter dem hohen spitzen Giebeldache wohnte der einsame Mann, und wenn man das kaum zweijährige Würmchen fragte: „Wer wohnt dort drüben?“ so nahm sie das Fingerchen aus dem Munde, deutete hinüber und sagte leuchtenden Auges: „Papa!“

Freilich, Papa – der Papa, der sein Kind kaum kannte, der nur ab und an einen pflichtschuldigen Besuch in der Burg machte und die blonde Kleine so düster ansah, als ob ihm etwa ein unangenehmer Brief präsentirt würde. Und dennoch jauchzte das Kind im hellsten Jubelton ihm entgegen und faßte verlangend nach den blanken Knöpfen seiner Uniform. Es mußte doch Etwas sein in dem kleinen Herzen, das es ahnungslos hinzog zu dem stillen verbitterten Manne.

Es war ein auffallend hübsches Kind, der Liebling des ganzen Hauses, ein Herz und eine Seele mit Tante Lott, mit der grauen Mieze und dem großen Moritz. Nur vor der Tante Ratenow hatte sie Scheu; das blühende Gesicht konnte blaß werden wie Wachs bei einem tadelnden Blick der hellen Frauenaugen; sie lief und sprang ebenso eilig, wenn irgend etwas zur Erde fiel, es aufzuheben, aber sie that es nicht so lächelnd bereitwillig wie bei Tante Lott, obgleich der Dank nicht minder freundlich lautete.

„Nun muß sie bald zur Schule,“ sagte Frau von Ratenow eines Tages, als sie am Fenster saß, und ihre Augen folgten dem Kinde, wie es mit fliegenden Locken über den Hof lief und im Kuhstall verschwand, wo es seine Vespermilch zu verzehren pflegte, „sie wird fünf Jahre alt im April.“ Und sie schob die Brille, die sie seit zwei Jahren trug, auf die glatte weiße Stirn empor, um besser zu sehen.

„Zur Schule?“ fragte Moritz, der gerade zu den Osterferien anwesend war und im Zimmer auf- und abschritt, hünenhaft groß und blond im grauen Sommeranzuge, ein keckes Schnurrbärtchen über dem Munde und so rosig von Gesichtsfarbe wie immer.

„Zur Schule?“ fragte er, vor der Mutter stehen bleibend.

Frau von Ratenow sah ihn groß an.

„Ich weiß wohl, Mütterchen, daß sie Lesen und Schreiben lernen muß, aber warum denn nicht hier im Hause? Es giebt ja Gouvernanten genug.“

Die Arbeit sank in den Schooß und die hellen Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an. „Moritz, ich weiß nicht, wie Du darauf kommst. Wenn ich eigene Töchter hätte, würde ich vielleicht – ich sage ‚vielleicht‘ – diese vornehme abschließende Art des Unterrichts gewählt haben; das Kind aber würde nur verwöhnt dadurch und – Gott sei’s geklagt! – sie wird es schon so genug!“

„Da soll das Würmchen den weiten Schulweg paddeln mit den kleinen Füßen in allem Wind und Wetter? Laß sie, im Winter wenigstens, hineinfahren, Mutter.“

„Daß ich eine Närrin wäre, Moritz,“ erwiderte sie ruhig. „Wenn Du ihr für später eine Equipage garantiren willst – meinetwegen. Vom April ab geht Else in die Schule; was ist’s weiter – die Allee hinunter, durch’s Steinthor in die Rosengasse und – da ist sie.“

„Du hast zu bestimmen, Mutter.“

„Richtig, mein Jung. Und nun laß uns von Deinen Plänen sprechen; also wenn Du im Herbst von der Reise nach Wien und Tirol zurückkehrst, so regieren wir Beide hier zusammen?“

Er lachte und küßte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

„An’s Heirathen denkst Du hoffentlich noch nicht?“ sagte sie plötzlich und sah den jungen Mann forschend an.

„Doch, Mutter!“ erwiderte er zu ihr tretend. „Ich will Dir ehrlich gestehen, ich – habe daran gedacht.“

„Du Kieckindiewelt? Wird was Rechtes sein! Wen hast Du Dir denn auserkoren, Jungchen?“

„Eine alte Flamme schon, Mütterchen; aber ängstige Dich nicht, sie ist eben erst in Pension gekommen.“

„So? In Pension erst? – Was lernt sie denn da, Moritzchen? Blaß und bleich lernt sie werden, eine nervenschwache Puppe sein, damit keine gesunde Frau und Mutter aus ihr werden kann. – Und was sie verlernt, darüber hast Du wohl nicht nachgedacht? Aller Sinn für stilles Familienleben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_021.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2019)