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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


seinen Staaten zuerst die Folter abschaffte. Die Veranlassung gab wieder ein der Vollendung naher Justizmord. In Berlin hatte man eine Witwe erdrosselt gefunden, die Besitzerin des „Stelzenkrugs“. Bei ihr wohnte ein armer Candidat, der sich kümmerlich von Elementarunterricht nährte. Er war Tags vorher bei einem Landprediger zum Besuche gewesen, hatte im Dunkel der Nacht den Heimweg nicht finden können und war auf freiem Felde übernachtet. In Folge dessen vermochte er nicht nachzuweisen, wo er in der Mordnacht gewesen war. Man setzt ihn gefangen, foltert ihn, und er bekennt sich als Mörder der Wittwe. Friedrich der Große läßt, ehe er das Todesurtheil bestätigt, die Sache erst durch seinen Großkanzler Cocceji, einen berühmten Juristen, untersuchen. Dieser entdeckt Mängel im Verfahren und ordnet die Wiederausgrabung der Leiche an. Der damit beauftragte Scharfrichter findet, daß die Erdrosselung durch einen kunstgerechten Knoten bewirkt ist, wie er als ein Geheimniß der Scharfrichterkunst gilt. Man forscht weiter und findet die wahren Mörder in ein paar Scharfrichtergehülfen. – Etwa dreißig Jahre früher war ebenfalls in Berlin ein Justizmord erfolgt, der im Volksmunde als der „Mord in der Brüderstraße“ lebte. Dem Kaufmann Lampert, der in jener Straße wohnte, war eine größere Summe Geld, französische Pistolen und holländische Ducaten, aus seiner Schlafkammer gestohlen worden. In diese Kammer hatte außer den Lampert’schen Eheleuten nur die Dienstmagd Marie Keller Zutritt, wenn sie die Betten machte. Auf sie fiel der nächste Verdacht. Er erhielt durch den Umstand wesentliche Nahrung, daß in der Tasche eines ihrer Kleider ein holländischer Ducaten gefunden wurde. Lampert zeigte den Diebstahl bei Gericht an, obwohl seine Frau fast flehend bat, die Anzeige zu unterlassen. Der Verdacht gegen das Mädchen wurde noch verstärkt, als ihre Mutter, um die Tochter zu retten, die falsche Angabe machte, diese habe den bei ihr gefundenen Ducaten als Pathengeschenk bei ihrer Taufe erhalten, und sich nachher ergab, daß die Jahreszahl des Ducaten eine weit spätere war, als die von Mariens Geburt. Nachdem ihr durch die Folter noch ohnedies ein Geständniß erpreßt war, wurde Marie Keller am 24. Juni 1731 durch den Strang hingerichtet.

Wenige Zeit darauf fand man Mariens Dienstfrau auf dem Boden ihres Hauses erhängt. Sie hatte sich selbst gerichtet, nachdem sie in einem an die Richter gesandten Schreiben Mariens Unschuld und ihre eigene Schuld bekannt hatte. Sie war es gewesen, welche zur Befriedigung eitler Bedürfnisse das Geld aus dem Koffer des Mannes entwendet und zur Ablenkung des Verdachtes den Ducaten in die Kleidertasche der Magd gesteckt hatte. Die Furcht, selbst dem Henker zu verfallen, hatte ihr den Mund verschlossen, aber die Qual des Gewissens trieb sie in den sühnenden Tod.

Ein großes Aufsehen erregender und durch die Einmischung Voltaire’s bekannt gewordener Justizmord aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist die Hinrichtung des Jean Calas in Toulouse. Dort hatte sich die früher reformirte Bevölkerung meist wieder zum Katholicismus bekehrt. Jean Calas, ein wohlhabender Kattunhändler, war Hugenott geblieben; nur einer seiner zahlreichen Söhne war Katholik geworden und in die Congregation der weißen Brüder übergetreten; ein anderer Sohn, Marc-Antoine, der die Rechtswissenschaft studirt hatte, sah sich dadurch, daß er Hugenott war, von der Zulassung zum Staatsexamen ausgeschlossen. Das hatte ihn unzufrieden und zerstreuungssüchtig gemacht. Eines Abends im October des Jahres 1761, als die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_013.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)