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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

die goldbordirten Kirchenmäntel, die gesteiften Bürgerhauben an einander. Von den Emporen schauten in vierfachen Reihen die runden, vollwangigen Gesichter der Männer herab. Um die Orgel hatte die Schuljugend sich geschaart, die Kolben aufgerieben, die Stumpfnäschen sauber geputzt und half mit hellen Stimmen dem Cantor den Kirchengesang leiten. In den Gängen drängte sich zusammen, was keinen Kirchenstuhl sein Eigenthum nennen durfte: die arme Tagelöhnerin im schwarzen Sergemantel, die Bäuerin in Tuchmieder und bebänderter Mütze.

Der Currendeschüler, der berufen war, das silberne Rauchfaß durch die Kirche zu schwenken, konnte nur um den Altar herum seinen Dienst verrichten. Die Kirchenväter, welche an langen Stangen den rothsammetnen silbergestickten Klingelbeutel herumtrugen, den Pfennig für den Gotteskasten zu heischen, mußten abstehen von ihrem Unternehmen.

In dem braunen Stuhl des einen Seitenschiffes schmiegte Johanne sich scheu an einen grauen Steinpfeiler. Manches Herz hatte wohl dort schon in banger Sorge geklopft, manches Auge war angstvoll zu der hohen Wölbung empor geflogen. In schwererer Pein kein Herz, kein Auge als das ihre. In der Mitte zwischen den Pfeilern, die den Glockenthurm trugen, erschaute sie die Glocke, von einem mächtigen Kranz umschlungen. Die Decke der Kirche war geöffnet, und die starken Seile, an denen die Glocke empor schweben sollte, liefen von der schwindelnden Höhe herab. Sie sah, daß alle Kirchgänger von der Stätte zurück drängten; an dieser Stelle allein war Platz gelassen in der Kirche.

Nur der junge Meister stand dort. Einmal ordnete er noch etwas an den Seilen, einmal noch flog sein Blick hinauf in die Thurmeshöhe, die er in wenigen Minuten durchmessen sollte. Dann sang er ruhig aus dem großen schwarzen Gesangbuch mit der Gemeinde.

Jetzt schwieg die Orgel. Die Priester in schwarzen Ornaten umgaben die Glocke. Der Superintendent erhob die Hände und flehte den Herrn an, daß er das Werk gelingen lassen möge. Dann segnete er die Glocke ein und bei jedem Segensspruche neigte sich die Versammlung; tief beugten sich die Häupter bei dem Zeichen des Kreuzes. Nun sang die Gemeinde einen letzten Vers. Unter den Klängen desselben bestieg Seine Hochehrwürden die Kanzel, um dort das Aufziehen der Glocke abzuwarten.

Das letzte Wort war gesungen. Die Orgel verstummte. Aller Augen wandten sich auf den jungen Meister. Einen Schritt war er vorgetreten; dann bedeckte er das Gesicht mit dem Hut, den er in den gefalteten Händen hielt. Er sprach ein letztes Vaterunser. Das war so Brauch bei jedem ernsten Beginnen. Lautlose Stille lagerte über der Versammlung. Sein leises Amen! tönte bis in den fernsten Winkel.

Jetzt schwang er sich auf die Glocke und gab das Zeichen zum Aufziehen. Die Winde begann zu knarren und zu ächzen, die Seile spannten sich an und langsam erhob sich die Glocke von der Erde. Leise schwebte sie himmelan.

Wie glänzte sie so goldig unter dem frischen grünen Kranze, der im Brunnengarten gepflückt war! Wie ruhig stand der junge Meister auf der schmalen Krone! Die rechte Hand nur hielt das Seil, an dem sein Leben hing, die linke hatte er mit dem Hute kühnlich in die Seite gestemmt. Höher und höher schwebte sie. Der Kreis unten wich angstvoll weiter zurück. Wenn sie stürzte, wollte Niemand mit zerschmettert sein.

Von Zeit zu Zeit tönte ein Commandowort von der Winde – sonst Todtenstille überall.

Die Hände krampfhaft um das Gesangbuch des Großvaters gefaltet, aus dem Hermann so oft vorgelesen hatte, saß Johanne. Ihre Augen hingen an dem Glockengießer. Das bunte Licht der Fenster wob einen Glorienschein um sein Haupt. Die Glocke schwankte leise; aber unbewegt stand er. Mit ruhigem Lächeln und festem Blicke in die Tiefe fuhr er empor. Warum schlug ihr nur das Herz so angstvoll um ihn? Für ihn war es ja die Fahrt auf dem glückhaftigen Schiffe zu Ehre und Wohlhabenheit, dieweil sie einsam dahinwelkte.

Da fiel sein Blick hoch von der Wölbung herab auf sie, in ihre düster starrenden Augen – und plötzlich – es rann ihr eiskalt durch die Adern – schien es, als male sich Bewegung in seinen Mienen. Hielt die Hand nicht mehr fest am Seile? Wollte die Glocke sich drehen? Erblaßte er nicht? Und ohne der wohlanständigen Nachbarin in der vollbürtigen Goldhaube zu achten, ohne daran zu denken, daß ihr Gebühren in der lutherischen Kirche auffällig war, stürzte sie auf den alten durch manchen Kniefall verwischten Grabstein nieder, und ihre Seele schrie zu Gott: „Halte Deine Hand gnädig über ihn, daß er sein Werk vollbringt, und ich will nimmer klagen.“

Auch der Superintendent hatte die Hände gefaltet und betete halblaut. Stoßweise flog ein leises, leises Flüstern über die Versammlung, wie wenn das Laub in der schwülen Luft vor dem Gewitter in sich selbst erbebt.

Jetzt verschwanden Glocke und Meister in der Wölbung des Thurmes. Und wieder lagerte sich Stille über die Gemeinde. Nur die Winde knarrte, die Seile ächzten, und Commandoworte schallten herauf und herab. – Und in heißem Flehen wand Johanne die Hände. „Halte Deine Hand über ihn und gieb ihm all das Glück, das Du mir nimmst.“

Minuten auf Minuten verstrichen in athemloser Spannung.

Da – plötzlich – tönte ein heller Glockenschlag vom Thurme. Noch einer folgte und ein dritter. Das waren die drei Schläge, mit denen der Meister sie einweihte zum Dienste des Herrn.

Das Werk war glücklich vollbracht. Der strenge Schicksalslenker hatte ihr Gelübde angenommen, ihr Gebet erhört. Brausend setzte die Orgel ein, Pauken und Posaunen dröhnten dazwischen; dankerfüllt stimmte die Gemeinde ein: Herr Gott, Dich loben wir! Auch sie wollte ein Dankgebet sprechen. Aber es kamen ihr nur die Worte in den Sinn: Dein Wille geschehe! Das arme Weib, seine Mutter, hatte Recht gehabt: Das war das einzige Gebet, das den armen Erdenwürmern zukam. Sie hörte nicht auf die Predigt; sie sah nicht, wie die Gemeinde eine Gasse bildete, um den Glockengießer noch einmal anzuschauen; sie schlich in ihr Giebelstüblein. Nun hatte sie nichts mehr zu fürchten und zu hoffen.

Da rauschte es noch einmal draußen auf. Er war es; er kam mit dem Herrn Bürgermeister aus der Kirche. Nun ging’s

VENITE AD ME QVI LABORATIS EGO REFICIAM VOS

HVLDRICVS ZVINGLIVS
ANNO AETATIS 44
B.

Nach einem alten Kupferstich von Rene Boqvin. (Vergl. S. 850.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_844.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2017)