Seite:Die Gartenlaube (1883) 817.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

seine Meinung so gut, daß er es mit Recht als eine Kränkung ansehen müßte, wenn ich ihn auch nur fragte.“

Frau Berghen stand auf. „Dann kann ich zu meinem tiefsten Bedauern nichts weiter für Sie thun,“ sagte sie. „Mag das Gericht seine Entscheidung treffen.“

„Aber wozu das?“ fragte Helene mit sanftem Vorwurf. „Die Mutter hat ihren Sohn beerbt, ist das nicht die natürlichste Lösung? Was konnte Robert denn hinterlassen, als was seine Eltern für ihn erworben hatten? Sagen Sie mir aufrichtig: wenn dieses Capital, das Ihre Großmuth mir bestimmt hatte, für die Handlung frei würde, wenn eine geschickte Hand, wie die Osterfeld’s, es klug verwendete – könnte das Haus Berghen auch dann unter keinen Umständen gehalten werden?“

Die alte Dame preßte die schmalen Lippen fest auf einander und schloß eine Secunde lang die Augen. „Und wenn ich nun antwortete: vielleicht –“ antwortete sie dann mit stockender Stimme, „was könnte das ändern?“

„Es muß hier allein entscheidend sein,“ rief Helene. „Ich flehe Sie an, theuerste Mama, bedenken Sie, was auf dem Spiel steht. Wie können wir Robert Berghen’s Andenken besser ehren, als indem wir thun, was er selbst unbedingt gethan hätte: sein ganzes Hab und Gut einwerfen, um das alte Handelshaus zu retten?“

Das königliche Palais in Madrid.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von B. Schlesinger in Stuttgart (J. Laurent, Madrid).


„Wir – wir …“ sprach die Frau Consul leise und doch mit scharfer Betonung vor sich hin. „Sie wollen ja keinen Theil an diesem Besitz haben. Ich bin nicht weniger stolz als Sie.“

„Aber Sie sind unglücklich und in Noth – und es kann Ihnen und den Ihrigen geholfen werden, wenn Sie nachgeben.“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Robert hat’s gewollt.“

Helene sah halb abgewandt zur Erde. Plötzlich war’s, als ob ihre Augen, die von unten her nach dem traurigen Gesicht der alten Mama ausspähten, heller zu leuchten anfingen. „Ich hab’s,“ sagte sie. „Theilen wir! Aber nicht so, daß Jeder die Hälfte nimmt – das wäre mir soviel als das Ganze und Ihnen nichts. Nein! Sie verfügen jetzt über Robert’s Nachlaß zu Gunsten des Hauses Berghen. Geht das Capital verloren, so hat damit jeder Streit von selbst ein Ende. Gelingt es ihm, wie zu hoffen, das alte Haus neu zu stützen und in seinem Ansehen zu erhalten, dann …“ Sie neigte sich ganz dicht zum Ohr der Frau Consul – „der Junge horcht auf, als ob er dem Papa von jedem Wort, das wir gesprochen, Rapport erstatten müßte“ – flüsterte sie. „Dann – will ich’s vor meinem Mann verantworten, wenn ich in Ihrem Testament bedacht werde. Schlagen Sie ein, ich bitte Sie.“

Das fahle Gesicht der alten Frau röthete sich merklich. Sie stützte sich auf den Schirm, den sie in der Hand hielt, wie auf einen Stock; der ganze Körper schwankte, die Lippen bewegten sich zitternd und die Brust athmete ängstlich schnell. „Schlag’ ein,“ bat Helene nochmals, jetzt aber zu dem alten vertraulichen Du zurückkehrend. „Sei wieder meine gute, liebe Mama –!“

Da fühlte sie ihre Hand ergriffen, ihren Hals umfaßt. Die alte Frau schluchzte an ihrer Brust wie ein Kind. „Sei es denn so,“ rief sie, „und Gott segne Dich und gebe Dir Freude an Deinen Kindern!“

Sie hob Willy auf und küßte ihn.

Der Junge ließ sich’s gefallen. Aber noch als die Professorin, die den Gast zur Treppe begleitet hatte, zurückkehrte, stand er da mit ganz verwunderten Augen. Das Leben hatte ihm zum ersten Mal ein Räthsel aufgegeben. „Aber warum hat die fremde Frau geweint und mich geküßt?“ wollte er durchaus wissen.



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_817.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)