Seite:Die Gartenlaube (1883) 789.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 49.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Glockenstimmen.

Eine Bürgergeschichte aus dem 17. Jahrhundert.
Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

In solche Plaudereien, wie sie das Jahr des Herrn 1650 mit sich brachte, traf der Klang der großen Glocke vom Dom wie wuchtiger Hammerschlag hinein. Mächtig dröhnte das Geläut hernieder, und das aufhorchende Volk erschaute, wie droben aus der geöffneten gothischen Pforte ein Zug sich ergoß und den Gang um den Dom dahin wandelte. Durch die durchbrochene Steinbrüstung schimmerten die bunten Gewänder der Priester, leuchteten die Kerzen der Chorknaben; Fähnlein mit Heiligenbildern flatterten darüber, Weihrauchwölkchen stiegen aus den geschwenkten Fässern in die Luft, und das eintönige Gemurmel; von Gebeten mischte sich mit dem Gekreische der Dohlen, welche die spitzen Thürme von St. Severin für und für umschwärmen.

„Ein Bittgang!“ rief das Volk und wandte sich nach den die Severihöhe emporführenden Graten. „Welch Unheil soll abgewendet werden? Es muß ein starker Teufel sein, da sie die Maria Gloriosa zu Hülfe rufen. Die nimmt es mit jeglichem Dämone auf.“

„Ja wohl, ein starker Dämon ist es,“ sagte der hinzu tretende Sacristan von St. Severin. „Die Pestjungfrau soll abgewendet werden. Sie hat einmal wieder ihren unseligen Lauf begonnen. Mit blutigem Tuche winkt sie in das Land, und ihr feuriger Besen fegt die Menschen dahin wie dürres Laub.“ Er ließ von Neuem die Perlen seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten und eilte dem Zuge nach.

„Die Pest!“ schrie das Volk auf. Von den Fleischbänken vor den Graden liefen die Metzger herzu, aus den Salzbuden kamen die Salzhockenweiber; es schauten eitel bleiche Gesichter einander an.

„Wenn die evangelischen Pfarrer nur ein Einsehen haben und auch ein ordentliches Gebet anordnen,“ sprach Eberhard gewichtig; „denn Niemand kann verlangen, daß unser Herrgott auf die abgöttische Litanei hören soll.“

„Aber wo haust die Pest?“ riefen viele Stimmen durch einander.

Der eine Fuhrmann, welcher beschäftigt war, ein Faß Frankenwein von seinem Wagen nach dem Keller zu schroten, kam heran und erzählte mit ernster Miene: „Da kann ich halt dienen. Bin mit meinem Wagen anstatt auf der Landstraße auf einem Malefizwege durch das Walpurgishölzle gekraxelt. Habe meine Ladung Wein auf dem Halse behalten, die der Wirth zum Gansel bestellt hatte, daß ich nur nimmer in das verpestete Arnstadt hinein mußte.“

„In Arnstadt die Pest?“ rief Hermann und stürzte auf den Mann zu.

Dieser nickte. „Sie ist urplötzlich in der Papiermühle ausgebrochen. Soll halt durch alte Lumpen dahin verschleppt worden sein.“

Im nächsten Augenblicke stürmte Hermann von dannen. Sein Vetter eilte ihm nach.

„Wohin willst Du?“

„Mein Bündel schnüren,“ entgegnete Hermann eilig.

„Zu was End?“ rief erschrocken Eberhard, der seinen jungen Vetter lieb gewonnen hatte.

„Um den Hennings beizustehen in der Noth, wie sie sich dereinst meiner erbarmt haben,“ lautete die mit zitternder Stimme gegebene Antwort.

„Aber sie haben Dich fortgeschickt. Gott hat Dich gnädig behüten wollen,“ redete Eberhard auf ihn ein.

Hermann hörte nicht. Im Sturmschritte eilte er nach ihrer Wohnung. Athemlos folgte ihm sein Vetter nach. „Da haben wir es wieder einmal,“ murmelte er. „Wo ein verteufeltes Weibsbild in’s Spiel kommt, hört alle Vernunft auf.“ Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, daß er sich auf die Steinbank neben der Thür setzen mußte.

Bald kam Hermann zurück in den alten zimmetbraunen Kleidern. „Euer Leibgewand hängt oben in der Kammer. Jetzt trage ich wieder Henning’s Rock,“ sagte er. „Mein eigen ist ja nur die Haut, in der ich stecke,“ fügte er mit trübem Lächeln hinzu. „Habt Dank für alle Liebe, und Gott möge Euch lohnen, wenn ich es nicht vermag, dieweil ich den Weg aller Welt gehe. Vermeldet auch der Meisterin meinen Dank und Abschied.“

„Ich hätte einmal darüber geschlafen,“ meinte Eberhard kopfschüttelnd. „Man soll über jeden Entschluß einmal Nacht werden lassen. Der frische Morgen bringt stets die richtige Erleuchtung.“

„Schlafen?“ rief Hermann in Verzweiflung. „Dieweil sie vielleicht mit dem Tode ringt oder schon in der kalten Erde liegt. Von jedem Augenblicke kann es abhängen, ob ich sie noch einmal sehe.“

„Aber in der Nacht kommst Du nicht fürbaß auf den Wegen, die von den Feldstücken zerfahren sind,“ stellte der Ohm vor. „Und wie willst Du in der Finsterniß die Fuhrt durch die Gera finden? Die Brücke hat der Königsmark bei seinem letzten Durchmarsch abbrechen lasten.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_789.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2024)