Seite:Die Gartenlaube (1883) 773.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 48.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Glockenstimmen.

Eine Bürgergeschichte aus dem 17. Jahrhundert.
Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Jetzt richtete Hermann sich auf und erwiderte mit fester Stimme: „Ich danke Euch für Beides. Und auch für alle Wohlthaten, die Ihr mir je erwiesen habt,“ setzte er inniger hinzu. „Sollte es einstmals in meiner Macht stehen, sie Euch zu vergelten, so wird es mit Freuden geschehen. Aber von dieser Stunde an nehme ich nichts mehr von Euch an. Ich bin gesund und stark und habe Manches gelernt durch Eure Güte. Ich will mir selber weiter helfen. Zuvörderst gehe ich nach Erfurt. In der dortigen Glockengießerei arbeitet seit Jahren ein Vetter meiner seligen Mutter, ein ältlicher Junggesell. Vielleicht schafft er mir Arbeit.“

Herr Henning lächelte. „Und Du kannst bei Deinen geliebten Glocken den ganzen Tag verweilen.“

Aber Hermann lächelte nicht mit. Er drückte die Hand vor die Augen und stürzte hinaus. Die Familie ging aus einander, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.

Als der Nachtwächter zum ersten Male über den Liebfrauenkirchhof tutete, nahm Hermann Abschied von seinen bisherigen Wohlthätern.

„Deinen Ausgang segne Gott!“ sprach der alte Großvater.

Die Frau Henningin aber tröstete: „Wer weiß, wozu es gut ist!“

Und der Papiermüller sagte würdevoll: „Was der liebe Gott beschlossen hat, dagegen können wir nicht aufkommen.“

Denn dazumal wurde dem lieben Gott Alles zugeschoben, was an Leiden kam, wenn die Menschen sich auch selber oder einander gegenseitig das Kreuz gezimmert hatten. Und es war auch Brauch, daß die Kinder in tiefster Unwissenheit über die Vorgänge des Lebens gehalten wurden. Deshalb lagen Christel, Bastian und Benjamin in Gitterbetten und Wiege und erfuhren nichts davon, daß ihr treuer Spielgefährte und Wächter sich rüstete, von dannen zu ziehen.

„Hanne hat Wehtage in den Zähnen,“ entschuldigte die Mutter, als er einen fragenden Blick auf sie richtete.

Da sagte er mit erstickter Stimme Lebewohl und stieg nach seiner Bodenkammer hinauf. Mit Tagesanbruch sollte er in der Stille gehen. Sein Bündel mit seinen geringen Habseligkeiten an Wäsche und Kleidern lag geschnürt bei dem jungeichnen Wanderstabe.

An Schlaf vermochte er nicht zu denken. Er lauschte auf das Rauschen des Weißebaches, der, vom Jungfernbrunnen hergeleitet, drüben in den Wasserthurm strömte, welcher durch eine Kunst die Brunnen der Stadt speiste, dann davon schäumte und die Mühle drehte. Er vernahm das Klappern des Mühlwerks, das jetzt nach den Feiertagen wieder anhub; der älteste Mühlknappe hatte es um die Mitternachtsstunde angelassen. Er sollte hinfort das Getön, unter welchem er herangewachsen war, nicht mehr hören.

Dasselbe kleine Lämpchen, mit dem Frau Henningin ihm dereinst heraus in die Kammer geleuchtet hatte, als er zum ersten Male hinter dem rothen Balkenwerke der Papiermühle schlief, stand auf dem grob zugehauenen Holzschemel. Er gedachte daran, wie geborgen er sich damals fühlte, als er, ein achtjähriges Kind, nach dem Tode seiner Eltern unter dem stattlichen Dache eine Zuflucht fand. Tage und Nächte hatte er einsam in der zerfallenden Hütte an der Mauer durchjammert, nachdem kurz hinter einander Vater und Mutter hinausgetragen worden waren, der Vater, muthwillig von einem Merodeschen Kriegsknecht erstochen, der zu seinem Vergnügen das Hüttchen spolirte, die Mutter vor Hunger und Kummer gestorben.

Da war Herr Henning gekommen und hatte ihn in die Papiermühle hinüber geholt. Der alte Papiermüller hatte gesprochen: „Deinen Eingang segne Gott!“ und Frau Henningin ihm das verweinte Gesicht abgewaschen und ein schwarzes Halstuch umgebunden, auf daß er wie ein ordentlicher Christenmensch um seine Eltern trauerte. Dann war der älteste Sohn Zacharias, der mehrere Jahre jünger war als er, in die Ofenecke geschlendert, in die er sich verschüchtert geflüchtet hatte, um die Schuhriemen von ihm sich festschnallen zu lassen.

Zuletzt war Hannchen herbeigetrippelt. Er meinte sie noch vor sich zu sehen, das kleine sechsjährige Mädchen, wie sie mit ihren bräunlichen Fäustchen den Zacharias bei Seite stieß, ihn aber an der Hand faßte und in die Fensternische führte, wo sie ein Plätzchen für ihr Spielzeug besaß, an das Niemand rühren durfte. Denn sie hielt auf ihre Stellung als Aelteste der Kinder so streng, wie das erstgeborene Gräflein in der Neidecke auf die seine. Dort mußte er sich zu ihr setzen, und er durfte mit ihrer Docke, ihrem Schüsselbrettchen spielen. Der erste Bissen, den er in dem neuen Heim genoß, war ein Stückchen Brod in Honig getaucht, das sie ihm auf ihrem kleinen Tellerchen vorsetzte. Und so war es geblieben all die Zeit her, sie hatte ihn immer in

Schutz genommen. Und nun sollte das Alles wie nie gewesen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_773.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2024)