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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Ihre Hand wurde im Augenblick feuchtkalt. „Meine Gratulation?“ fragte sie, nicht im Ton der Ueberraschung oder Verwunderung, aber auch keineswegs mit sicherer Abwehr. „Wozu?“

„Ach! Du verstehst mich doch?“ Er zuckt die Achseln und zog spöttisch den Mund.

„Nein, wirklich –“ sagte sie kleinlaut. „Ich wüßte nicht –“

Er schien keine mitleidige Rücksicht gelten lassen zu wollen. „So ist die Verlobung noch nicht förmlich erklärt?“

„Walter –!“

Der Uhrmacher hustete in einigen kurzen Stößen. Sein Sohn verstand dieses Zeichen nicht oder wollte es nicht verstehen. Er sah sehr erhitzt aus, und während er immer anscheinend ganz lustig lachte, war sein Blick doch stechend und zuckten die Mundwinkel. „Aber thu doch nicht so!“ rief er. „Wenn man solche Dinge versteckt halten will, muß man vorsichtiger sein. Ich habe Euch doch wohl traulich Arm in Arm gehen sehen, denke ich.“

Ihr stürzten die Thränen aus den Augen. „Du kannst glauben, Walter –“ schluchzte sie.

Er warf den Kopf zurück. „Was glauben? Man vermuthet in solchen Fällen das Natürlichste. Aber wenn Du es nicht haben willst – gut!“

„Ich sage Dir aber, Du irrst!“

„Worin? Ihr seid noch nicht verlobt – das kann ja sein. Es ist dann von dem Herrn Assessor etwas – dreist, sich Rechte vorweg zu nehmen, aber wenn er’s haben kann …! Und an der Ernstlichkeit seiner Absichten ist ja auch nicht zu zweifeln.“

„Aber wenn ich Dich versichere, daß von meiner Seite …“ Sie drückte das Tuch auf die Augen. „Ach! – es ist abscheulich!“

„Was willst Du denn?“ rief er. „Du thust gerade, als ob Du nöthig hättest, mit mir Verstecken zu spielen. Was geht es mich an, ob Dir der oder ein Anderer gefällt? Ich bin doch wahrlich so närrisch nicht, von Dir zu erwarten, daß Du Dein ganzes Leben vertrauern sollst, weil Dir ein Bräutigam gestorben ist! Herr von Brendeln wäre mein Mann gerade nicht, aber das ist ja ganz gleichgültig. Er gefällt Dir, das entscheidet. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum Du Dich sträuben willst, eine ganz aufrichtig gemeinte Gratulation anzunehmen?“

Helene zuckte schmerzlich. „Aufrichtig, Walter?“

Er biß die Lippe. „Gewiß – ganz aufrichtig. Welches Interesse habe ich, Deinen Wünschen entgegen zu sein? Uebrigens überrascht mich die Sache gar nicht. Gleich am ersten Tage, als ich Gelegenheit hatte, den Herrn Assessor in Deiner Nähe zu sehen –“

Onkel Benjamin’s Husten nahm immer zu. Er stand dabei abgewandt und machte sich am Zifferblatt einer Schwarzwälder Uhr zu schaffen. Vielleicht ohne Absicht hatte er das Metallplättchen in der Mitte unter den Zeigern gedreht und damit den Wecker ausgelöst. Plötzlich fing er schrill an zu klingen und beruhigte sich eine geraume Weile nicht, da der alte Herr selbst zu verdutzt war, um Einhalt zu thun. Vielleicht war er auch gar nicht so unschuldig an diesem sonderbaren Zwischenspiel, das jedenfalls die Wirkung hatte, einer Unterhaltung ein jähes Ende zu bereiten, die mit jeder Minute peinlicher wurde.

Unter anderen Umständen hätte man die Klingelei komisch gefunden, jetzt war sie für die Betheiligten recht ärgerlich. Der Doctor wendete unwillig den Kopf zurück. Helene, die ihm eben hatte in’s Wort fallen wollen, preßte die Lippen zusammen und sah zur Erde. Das Glöckchen wollte gar nicht still werden, und als dann endlich das Gewicht abgelaufen war, fand der alte Herr sich gemüßigt, um Entschuldigung zu bitten und aus einander zu setzen, wie ihm das passirt sei. Nun wäre es ganz wunderlich gewesen zurückzugreifen. Und was konnte auch noch gesagt werden? Helene entschloß sich rasch, Abschied zu nehmen. Es geschah in ganz förmlicher Weise, indem sie des Onkels Hand nur berührte und dem „Adieu“, das Beiden galt, einen möglichst vornehm kühlen Klang gab. Walter sollte wenigstens wissen, daß sie sein Benehmen übel nahm. War sie die Beleidigte, so kam es nun auf ihn an, ob er ein freundschaftliches Verhalten ihrerseits wünschte.

Aber damit war doch für ihre Stimmung auf die Dauer recht wenig gewonnen. Das letzte Restchen unausgesprochener und unaussprechlicher Hoffnung, daß Walter ihr noch herzlich zugethan sei, hatte er grausam für alle Zeit zerstört. Seinetwegen konnte sie ja thun, was sie irgend wollte. Und das sollte ihr recht deutlich zum Bewußtsein kommen, noch viel deutlicher als schon bisher. Nicht einmal so viel galt sie ihm noch, daß er ernst abredete, zu reiflicher Ueberlegung mahnte, ein ganz klein wenig Betrübniß über ihre vermeintliche Verirrung zeigte. Es war ihr zu Muth, als ob ihrem Herzen ein schweres Leid angethan worden wäre – dagegen half kein zorniges Abweisen.

Sie hatte eine halb schlaflose Nacht und fühlte sich am Morgen von Vera’s Hochzeitstage wie zerschlagen. Den Vormittag über hatten die Hausgenossen mit sich selbst zu thun und beachteten sie wenig. Die Frau Consul beharrte gegen sie in ihrem Schweigen, Vera ließ sich gar nicht blicken. Um zwölf Uhr sollte auf’s Standesamt gefahren werden, um drei Uhr die Trauung in der Kirche stattfinden. Hülfeleistungen wurden von ihr nicht beansprucht.

Gegen ein Uhr kam Aurelie und brachte ihr ein köstliches Bouquet. Ihr Bruder gebe sich die Ehre. Diese Aufmerksamkeit konnte nicht ohne einen freundlichen Dank bleiben. Das Fräulein eilte diesmal rasch wieder fort, um rechtzeitig Toilette machen zu können. Der Gärtner habe sich verspätet gehabt, aber ihr Bruder würde es ihr im ganzen Leben nicht verziehen haben, wenn sie den Strauß nicht selbst abgegeben hätte.

In der Kirche und an der Hochzeitstafel durfte Helene nicht fehlen. Sollte sie sich jetzt dem Willen der Mama unterwerfen und schwarz erscheinen, nachdem der Bann einmal gebrochen war? Die roten Rosen wurden ihr doch nicht mehr vergessen! Sollte sie diese Demüthigung jetzt ertragen und nie mehr frei werden? Frei sein, sich wieder selbst bestimmen können – das war eigentlich noch in diesem Zustande gänzlicher Gebrochenheit ihr einziger bewußter Wunsch. Was sie mit dieser Freiheit beginnen wollte, kam ihr gar nicht in Gedanken. Aber sie wollte nicht länger die Sclavin eines traurigen Zufalls sein. Ihr eigenes Hochzeitskeid von schwerer weißer Seide lag noch unberührt. Sie wählte es ohne weitere Bedenken. Der Strauß, fast nur weiß und grün, paßte trefflich dazu. Sie schellte ihrer Jungfer und ließ sich ankleiden.

Als sie im Saal erschien, wo schon die meisten näheren Angehörigen des Brautpaares zu gemeinsamer Fahrt nach der Kirche versammelt waren, richteten sich alle Blicke auf sie. Viel schöner war sie als die Braut, und ihr schienen nur Myrthenkranz und Schleier zu fehlen, um selbst zum Altar treten zu können. Herr von Brendeln eilte auf sie zu und bat um Erlaubniß, ihr seinen Wagen anbieten zu dürfen. Er wich dann auch nicht mehr von ihrer Seite.

Es war ihr nicht unlieb, da die Hausgenossen sich für sie ganz unankömmlich zeigten. Sie begegnete da nur vorwurfsvollen oder kalt abweisenden Blicken. Selbst Gräwenstein verhielt sich heut merkwürdig steif und beschränkte die Unterhaltung auf das Nothwendigste. Er schien nicht anstoßen zu wollen.

„Du siehst gar nicht vergnügt aus, wie ein junger Ehemann,“ zischelte Brendeln ihm zu. „Das bist Du doch bereits von Staatswegen. Was fehlt Dir?“

Der Hauptmann drückte ihm die Hand und schob ihn zugleich sanft ab. „Nicht jetzt, Vetter,“ sagte er leise. „Wir sprechen noch vor der Abreise.“

Aurelie war unter den Letzten. „Wie habe ich mich beeilen müssen!“ rief sie Helene entgegen. „Aber wie reizend Sie aussehen! Mein Bruder wird der Gegenstand allgemeinen Neides der jungen Herren sein.“

Zu großer Erleichterung für Helene wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Bald setzte sich der lange Zug der Wagen nach der Kirche in Bewegung.

Herr von Brendeln ließ bei der Hin- und Rückfahrt die Gunst, mit Helene allein zu sein, nicht unbenutzt. Wagte er auch jetzt nicht eine förmliche Liebeserklärung, so bot er doch seine ganze Geschicklichkeit auf, um liebenswürdig zu erscheinen. Helene entmuthigte ihn auch keineswegs. Es war etwas wie Trotz in ihr, daß sie allen Widerstand aufgab und sich treiben ließ, wohin es ihr das Schicksal bestimmt haben mochte. Weshalb auch? Wem zu Liebe?

Die kirchliche Feier ging an ihr ganz ohne Eindruck vorüber. Auch an der Hochzeitstafel verhielt sie sich so theilnahmlos, als ihr dies die Höflichkeit ihrer Nachbarn – Herr von Brendeln gehörte nicht dazu, war nicht einmal an denselben Flügel gesetzt – erlauben wollte. Bei den üblichen Toasten erhob auch sie ihr Glas und hielt es geduldig jedem hin, der anzuklingen Neigung hatte. Aber sie netzte kaum die Lippen. Bei dem großen Rundgange am Brautpaare vorüber konnte sie nicht fehlen. Aber Vera war so beschäftigt, daß sie kaum Zeit behielt, ihr

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