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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Ihre Schwester?“ fragte sie verwundert. „Aber hier … Ich bitte, mein Fräulein –“

Die so Angemeldete schlüpfte hinein. „Darf ich? Mein Bruder hat in seinen Briefen so viel von Ihnen geschwärmt, daß ich auf’s Herzlichste bedauern mußte, Sie in der Gesellschaft nicht anzutreffen. Man sagte, Sie seien unwohl; aber er versicherte so zuversichtlich, das sei ein Vorwand, daß ich dem Verlangen nicht widerstehen konnte, mich zu Ihnen führen zu lassen. Da bin ich nun und bitte um Verzeihung, wenn ich zu dreist war. Der ganze Polterabend wäre mir verdorben gewesen, wenn ich Sie nicht gesehen hätte.“

Der Assessor war gleich nach ihr eingetreten und hatte die Thür hinter sich geschlossen. „Aurelie hofft sich im Sturm Ihr freundschaftliches Vertrauen erobern zu können,“ sagte er; „ich darf ihr das Zeugniß geben, immer eine treffliche Schwester gewesen zu sein, und das spricht doch, wie Sie mich kennen, bestes Fräulein, entschieden für ihr gutes Herz.“

Helene war so verwirrt, daß sie darauf nicht eine passende Antwort fand. Sie kehrte ihm den Rücken zu und führte das Fräulein nach dem Sopha. Jetzt im Lichtschein der Lampe bemerkte sie erst, daß sie es mit einer nicht mehr ganz jugendlichen Erscheinung zu thun hatte. Die Verwandtschaft war unverkennbar. Aurelie hatte die spitzen Züge ihres Bruders und auch in den Augen etwas Lauerndes wie er. Der Assessor hatte öfters von ihr gesprochen und dann immer nur ihre Klugheit gerühmt.

Jedenfalls wußte sie rasch und mit großem Geschick Helene aus der Verlegenheit zu ziehen. Herr von Brendeln stand hinter seinem Stuhl und mischte sich gelegentlich in das Gespräch. „Es ist hier so reizend in Ihrem stillen Stübchen,“ sagte Aurelie, „daß ich am liebsten gar nicht mehr zur Gesellschaft zurückkehren möchte.“

„Da es uns aber schwerlich so gut werden wird,“ bemerkte der Assessor mit einem bestätigenden Seufzer, „wird uns nichts übrig bleiben, als das Fräulein zu entführen.“

„Das gelingt nicht,“ sagte Helene kopfschüttelnd.

„Warum nicht? Wir sind Zwei gegen Einen,“ scherzte er.

Helene lachte schon. „Also Gewalt?“

„Im Nothfall,“ gab er zu. „Aber ich hoffe, daß gute Worte –“

„Verschwenden Sie sie nicht an mich, Herr Assessor. Ich bin taub.“

„Aber im Ernst, liebes Fräulein,“ mischte sich Aurelie ein und nahm deren Hand zärtlich in die ihrige, „warum entziehen Sie sich der Gesellschaft?“

„Es ist eine Nothwendigkeit,“ sagte Helene den Blick senkend, „erlassen Sie mir die Gründe.“

„Sehr ungern,“ versicherte Fräulein von Brendeln. „Ich würde sie gewiß sämmtlich nicht gelten lassen dürfen.“

„Und die Nothwendigkeit liegt auch wohl nicht in Ihnen selbst,“ fügte der Assessor hinzu.

„O doch – doch!“

„Wie? Es widerstrebt Ihnen innerlich an diesem frohen Familienfeste theilzunehmen?“

„Im Trauerkleide.“ Es war ausgesprochen. Schon im nächsten Augenblicke wurde es ihr leid.

„Aber was nöthigte Sie –?“

„Forschen Sie nicht weiter,“ fiel Helene ein. „Die besonderen Verhältnisse bedingen es so.“

„Und da haben wir denn wohl auch sämmtliche Gründe auf einem Haufen zusammen,“ rief Aurelie lachend. „Das Trauerkleid! Aber die Trauerzeit ist längst vorüber. Das Trauerkleid ist ein schwarzes Kleid, nichts weiter, und das schwarze Kleid“ – sie lehnte sich in die Sopha-Ecke zurück und musterte sie mit sichtlichem Wohlbehagen – „das schwarze Kleid steht Ihnen außerordentlich gut, liebstes Fräulein. Ihr zarter Teint, Ihre frischen Farben, das blonde Haar –“

„O, ich bitte Sie –!“ unterbrach Helene. „Sie beschämen mich.“

„Aber warum soll man’s nicht sagen dürfen,“ meinte das Fräulein, „wenn es wahr ist? Ach! Lassen Sie sich bewegen, liebes Fräulein! Es ist ja gar zu traurig, daß Sie hier so allein sitzen sollen und an dem schönen Fest nicht Theil haben. Wenn ich Sie recht herzlich bitte –!“

„Bitten Sie nicht! Es ist einmal so beschlossen.“ Der Ton war nicht so fest, wie ihn die Worte bedingt hätten.

„Aber kein Beschluß ist unabänderlich,“ bemerkte der Assessor. „In so kleinen Dingen muß man nicht consequent sein wollen.“

„Eigensinn ist sonst nicht mein Fehler,“ meinte Helene. „Aber meine Toilette ist wirklich nicht geeignet –“

„Sie läßt sich ja im Augenblick ergänzen,“ rief Aurelie, sich erhebend. Auf dem Tisch stand ein Glas mit prächtigen rothen Rosen, Helenens Lieblingsblumen. Die lebhafte Dame zog zwei davon heraus und steckte sie ihr in’s blonde Haar. „Kann es einen reizenderen Kopfputz geben?“ fragte sie. „Lebende Blumen – Rosen. Wie unschuldig das aussieht! Noch ein Sträußchen hier auf die Schulter … Nein, nein! wehren Sie meine Hand nicht ab, das gehört dazu. Zwei Rosen, ein Knöspchen, ein paar grüne Blätter – allerliebst! Was sagst Du, Leopold?“

„Ich bin stumm vor Bewunderung,“ versicherte er, über die Brille wegsehend. „Das ist ja das Ei des Columbus! Lebende Blumen – trefflich! Daran kann auch die trübste Grillenfängerei keinen Anstoß nehmen.“

Aurelie zog sie nach dem Spiegel. „Und wie die schwarze Farbe gleich paralysirt ist! Sehen Sie nur.“

„Ich werde mich wohl hüten eine Eloge zu sagen,“ äußerte Herr von Brendeln, sich abwendend. „Fräulein Helene hört dergleichen, wie ich weiß, sehr ungern.“

Dieses Anerkenntniß schmeichelte ihr. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie recht freundlich.

Er trat zu und reichte ihr den Arm. „Darf ich bitten?“

„Nein, es ist zu lächerlich, daß ich mich so abholen lasse.“

„Lachen wir doch! Man feiert ja Polterabend. Ihren Arm, mein Fräulein –“

„Aber Handschuhe wenigstens ….“ Sie zog eine Schieblade im Schränkchen auf und durchwühlte den Inhalt. Aurelie nickte hinter ihr dem Bruder zu. „Natürlich weiß,“ sagte sie.

„Weiß – hier.“ Helene war in fieberhafter Aufregung. „Wenn Sie’s denn wirklich so wollen ….“ Der Handschuh riß auf. Sie suchte ein zweites Paar vor. „Es ist wirklich – nicht einzusehen – warum ich nicht ….“ Aurelie knöpfelte mit geschickter Hand zu. „So –! ich bin bereit.“

(Fortsetzung folgt.)




Doctor Martin Luther.

Von Emil Zittel.

Wir stehen vor einem deutschen Mann der Weltgeschichte. Niemand wird behaupten, daß alle weltgeschichtlich hervorragenden Helden auch immer persönlich anziehende oder auch nur interessante Menschen gewesen sind. Bei Luther könnte man eher streiten, ob die geschichtliche Bedeutung oder die individuelle Persönlichkeit desselben uns mehr Interesse und Bewunderung abgewinnt. An dieser letzteren wird sich auch der wirklich gebildete Katholik voll und ganz erfreuen können und jeder Deutsche bekennen müssen, daß hier echt deutsche Art, echt deutscher Geist und deutsche Kraft, germanische Gemüthstiefe bei echt deutschem Witz und Humor in der That in einer so eigenthümlich nationalen Färbung uns entgegen tritt, daß unser Herz unwillkürlich für ihn gewonnen wird.

Und wahrlich, selten hat ein Mann dem deutschen Volke so aus der Seele geredet, wie Martin Luther, und ebenso selten hat es einer so wie er verstanden, in der knappen Sprache des einfachen Volkes die ernstesten und heiligsten Dinge mit derber Geradheit und Handgreiflichkeit und doch zugleich in so religiös würdiger und ergreifender Weise auszusprechen. Dabei standen ihm jederzeit eine solche Menge drastischer, aus dem einfachsten Leben gegriffener Bilder, so köstliche Sprüchwörter oder von ihm selbst geschaffene sprüchwortähnliche Schlagworte zu Gebote, daß seine Schriften uns darin noch heute eine wahre Fundgrube sein könnten. Luther’s erste Biographie waren Predigten, welche Matthesius zum Andenken seines entschlafenen Lehrers gehalten hat, und weil

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_712.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)