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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

nicht einmal im Traume als eine Möglichkeit vor. Und nun trat plötzlich etwas an sie heran, das ihr Denken und Empfinden in diese Richtung drängen mußte.

Es bemühte sich Jemand offenbar sehr ernstlich um sie. Hatte sie ihn abzuweisen ohne jede Prüfung, ob er ihr gefallen könne oder nicht, lediglich aus dem Grunde, weil sie einem Verstorbenen die Treue zu bewahren verpflichtet blieb? Oder durfte sie, ohne sich zu versündigen, ihr Herz befragen? Die Antwort war vielleicht in diesem Falle leicht, aber in einem anderen … Daß die Frage überhaupt aufgeworfen werden konnte, das war das Ueberraschende, Berauschende. Wie stand sie mit ihrem Herzen dazu?

Nicht weit von der Brücke über den Fluß klopfte sie mit dem Sonnenschirm dem Kutscher auf die Schulter und gab ihm die Weisung, sie zu Herrn Benjamin Grün zu fahren. Sie beabsichtigte durchaus nicht den alten Onkel in’s Vertrauen zu ziehen, oder gar von ihm einen Rath zu erbitten; aber es war ganz ihrer Stimmung gemäß, jetzt gerade seine Gesellschaft aufzusuchen.

Noch eine ziemliche Strecke von seiner Wohnung entfernt, mußte der Kutscher die Pferde im Schritt gehen lassen, da ein Lastfuhrwerk die Straße sperrte. Seitwärts ging ein junger Mann in derselben Richtung und wurde eingeholt. Helene schien ihn aufmerksamer in’s Auge zu fassen. Als nun die Peitsche knallte – ein Zeichen für den Lastfuhrmann, rascher zu fahren oder auszuweichen – wandte er den Kopf zurück – nochmals und nochmals, und blieb dann stehen, um die Equipage dicht an sich herankommen zu lassen. „Vetter!“ rief Helene hinaus. „Bist Du’s wirklich?“

Er reichte die Hand über den Wagenschlag. „Guten Tag, Helene! Der Zufall will’s, daß ich Dich bei meinem ersten Ausgange treffe – wirklich nur um die Ecke herum zu meinem Director.“

Sie schüttelte seine Hand. „Seit wann bist Du zurück?“

„Seit vorgestern. Gestern ließ mich der alte Papa keine Minute fort.“

„Zu mir wärst Du wohl auch nicht gekommen.“

„Kann sein! Aber ich hatte mir’s vorgenommen, der Frau Consul möglichst bald meine Visite abzustatten.“

„Das ist löblich. Wohin gehst Du nun?“

„Nach Hause.“

„Dahin wollte ich auch. Komm zu mir in den Wagen.“ Sie drückte die Feder an der Thür, die nun aufsprang.

„Es lohnt kaum,“ meinte er, stieg aber doch ein und setzte sich ihr gegenüber. Eben war auch die Straße frei geworden und der Wagen rollte rasch weiter.

Helene reichte dem Vetter nochmals die Hand zum Gruß. Sie schien sogleich ein recht freundschaftliches Verhältniß anbahnen zu wollen.

„Du siehst übrigens gut aus,“ sagte sie, ihn musternd. „Wenn ich an das bleiche Mondscheingesicht von damals denke –“

„Denke nicht daran,“ bat er.

Sie beugte sich ein wenig vor. „Ist das da auf der Backe eine Schmarre?“

Er erröthete leicht. „Nicht die einzige, der Bart verdeckt die andern.“

„Wirklich? Ich denke, Du warst ein principieller Gegner des Duells?“

„Der bin ich noch,“ versicherte er lachend. „Aber wie weit kommt man im Leben mit seinen Principien? Und in gewissen Jahren reitet man sie doch in der That zu pedantisch. Hatte ich nicht überhaupt die glücklichste Anlage ein arger Pedant zu werden?“

„Das muß ich bestätigen,“ sagte Helene. „Du hast mich oft grausam gequält.“

„Das war gegenseitig.“

„Wie das? Ich wüßte nicht –“

„Ach, Du konntest so wenig dafür, als ich. Mir ist’s übrigens ganz heilsam gewesen. Wenn man Neigung zum Stubenhocken und Büffeln hat, kann man nur dankbar sein für einen kräftigen Stoß ins Freie.“ Er schien jetzt erst ihren schwarzen Anzug in’s Auge zu fassen. „Das konnte allerdings Niemand vorhersehen,“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Aber wer weiß, ob Dir’s anders – nicht noch trauriger ergangen wäre.“

Ihre Stirn verfinsterte sich. „Du warst gegen Robert ganz blind eingenommen.“

„Das mag sein. Obgleich … Zu Leuten mit seinen Passionen werde ich immer schwer Vertrauen fassen können. Und glaube mir, Du warst keine Frau für ihn.“

„Aber –“

Er zuckte die Achseln. „Was stöbern wir da in dem alten Staube herum? Er fliegt doch nur auf, um sich wieder zu senken und liegen zu bleiben, wo er liegt. Freilich – wie konnten wir Beide einander nach Jahren begegnen, ohne eine Strecke Weges zurückzugehen? Am besten geschah’s gleich. Man ist’s dann hoffentlich für alle Zeit los.“

Der Wagen fuhr am Hause des Uhrmachers vor. Der alte Herr saß an seinem Werktisch am Fenster und arbeitete fleißig. Nun sah er auf, schob den grünen Augenschirm zurück und lachte über das ganze Gesicht, als ihm die Zwei zunickten. Dann kam er ihnen bis an die Thür entgegen.

„Nun, was sagst Du zu meinem langen Jungen, Lenchen?“ war sein erstes Wort. Dazu schmunzelte er recht wohlgefällig. Er behielt ihre Hand und führte sie in’s Zimmer, in dem sie mit lautem Ticktack empfangen wurde.

„Ich hätte Walter kaum wieder erkannt,“ sagte sie.

„Zu seinem Vortheil verändert, nicht wahr?“ schloß er rasch an. „Sehr zu seinem Vortheil. Man kann’s nicht anders sagen.“ Er klopfte ihm die Wange.

„Er hatte früher etwas komisch Unfertiges,“ meinte Helene. „Nun ist er als ein ganzer Mann zurückgekommen.“

„Ein ganz anderer Mensch, ein ganz anderer Mensch!“ rief der Uhrmacher und küßte ihn rechts und links. „Und doch der alte, Lenchen – wenn man ihm auf den Grund geht, der alte. Eine wahre Seele von Mensch.“

„Da soll man nun nicht ganz eitel werden!“ sagte der Doctor, sich zu dem Mädchen wendend.

„Ah pah, eitel!“ polterte der Alte. „Du weißt am besten, was Du werth bist. Laß mir meine Freude an Dir. – Hast mir ja auch Sorgen genug gemacht.“

„Nun kommt die Kehrseite obenauf,“ neckte Walter.

„Ja, ja, mit Deinem vergrämten Wesen und unsinnigen Gerede damals. Und als Du ganz wild ausschlugst und recht liederliche Briefe schriebst! Ja, ja, Du Schwerenöther!“ Er faßte ihn wieder beim Kopfe und küßte ihn ab. „Gereimt habe ich mir’s doch.“ Er blinzelte dem Mädchen zu. „Verstehst Du, Lenchen?“

„Kein Wort, Onkel.“

Walter meinte ihm jetzt zuvorkommen zu müssen.

„Hast Du denn nicht gemerkt, Cousinchen, daß der lange Junge in Dich ganz närrisch verliebt war?“ rief er lachend. „Zum Tollwerden!“

Sie schien zu erschrecken. „Walter,“ sagte sie, „so darfst Du nicht scherzen.“

„Scherze ich denn? Ja, jetzt, nun ich curirt bin! Ich hab’s wahrscheinlich sehr klug angefangen, Dir zärtliche Gefühle für mich einzuflößen. Mein Himmel, heut kann man sich ja kritisch zerfleischen. Ich war ein Narr, Lenchen. So ein komisch unfertiger junger Mensch –“

„Vetter –“

„Du hattest ganz Recht, der zählt nicht mit. Ihm selbst fallen dann freilich so viel Heine’sche Verse ein; er verzweifelt am Leben und begeht noch nicht den dümmsten Streich, wenn er sich nun erst recht hineinstürzt. Es muß irgend ein Kopfüber gewagt werden. Nach einiger Zeit steht man wieder fest auf den Füßen.“

„Ohne Gefahr ist’s doch nicht,“ meinte der Papa und tätschelte ihm die Schulter. „Mancher setzt sich so etwas in den Kopf, das er dann niemals wieder herausbringt, oder das verzweifelt lustige Leben hört gar nicht mehr auf. Eine so kerngesunde Natur freilich … na, ich freue mich, daß Alles wieder in bester Ordnung ist. Und nun sage ich’s auch ganz dreist heraus: Die beste Figur hast Du als Liebhaber nicht gespielt, mein Junge. Was, Lenchen? Da verstand’s der junge Herr Berghen besser.“

Helene war ganz still und ernst geworden. Nun ihr Name genannt wurde, schien sie erst wieder aufzumerken. Da sie das vergnügte Gesicht des alten Onkels sah, lachte sie auch und sagte:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_694.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2023)