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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

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Gegenstand gewinnt ja ein erhöhtes Interesse, wenn wir ein wenig in seinen „Personalacten“ herumblättern.

Täglich, stündlich, ja in jedem Augenblick haben wir Webstoffe vor Augen, sie sind das erste Culturattribut, mit welchem der nackt in’s Leben gestoßene Mensch in Berührung kommt, sie bilden auch die letzten Hüllen, den letzten Schutz, wenn wir zu Staub zerfallen, und warum sollten Männer und Maschinen, die so eng mit diesen Freunden im Leben und Tod verwachsen sind, nicht interessant sein? Diese Frage ist leider keine müßige, man will nur zu oft Fachberühmtheiten in die Fachliteratur verwiesen sehen, welche vielleicht an cultureller Bedeutung ein halbes Dutzend Berühmtheiten von der „normalen Sorte“ weit hinter sich lassen.

Louis Schönherr ist neben dem Webstuhle zur Welt gekommen; sein Vater war Handelsweber in Plauen im Voigtlande, und der Webstuhl sollte auch sein Leben ausfüllen. Sein Geburtsjahr (1817) fällt in die Zeit, da sich unser Vaterland von den schweren Kriegen langsam erholte, seine Jugend aber tritt mit jenen frischen Jahrzehnten zusammen, in welchen die ganze Welt in eine förmliche Aufregung durch die vielseitigsten neuen mechanischen Ideen gerathen war.

Es muß unserem Erfinder nicht sehr wohl in seiner Jugend ergangen sein; wir finden ihn 1826 als Kühjungen beim Schulmeister in Thierbach bei Plauen. Wasser- und Windmühlen hat auch er geschnitzelt, doch will ich diese Spielerei nicht als prophetische Erscheinung hinstellen, es haben das schon viele Knaben gethan: „Sind aber keine Weber geworden“, nach Goethe’schem Sinn.

Mit vierzehn Jahren, den Kopf voll Ideen, das Herz voll Erwartung und den Beutel voll Kupfer, wanderte der Knabe in die Fabrikstadt Chemnitz ein, wo schon so Mancher sein Glück schmiedete. Hier war ein älterer Bruder, Wilhelm mit Namen, schon längere Zeit in der sogenannten „Großen sächsischen Maschinenbau-Anstalt“ thätig, und unter dessen Protection durfte der jüngere Bruder als Drehjunge eintreten. An derselben Stelle, wo der Knabe jetzt den Besen führte, um die Eisendrehspähne zu beseitigen, sollte er einst seine wichtigsten Erfindungen machen, aus demselben bescheidenen Fabriklein sollte die größte Webstuhlfabrik auf dem Continent entstehen, und wo er für vierzehn Groschen Lohn per Woche, den Tag zu vierzehn Arbeitsstunden, wirkte, barg der Zukunft Schooß für ihn die wohlverdienten Lebensgüter – eine Wandlung, die schon an sich das innigste Interesse herausfordert.

Der ältere Schönherr war gleichfalls ein inventiöser Kopf, merkwürdiger Weise schlug bei ihm in späterer Zeit der klare mathematische Verstand in eine Art philosophischer Mystik um, die in ihrer Erscheinungsform an Jakob Böhme erinnert. Beide Brüder haben wacker mit einander geschafft, doch getrennt erfunden, der Aeltere erwarb zwei, der Jüngere zehn Patente und die weitaus wichtigsten; dies zur Klarstellung der schon mehrfach erörterten Antheilnahme der beiden Brüder an der Erfindung des Schönherr’schen Stuhls.

Den ersten Erfolg errangen die Brüder mit einander mit einer Werkzeugmaschine, die zugleich hobelte, drechselte, bohrte und Räder schnitt. Das war offenbar ein wenig zu viel auf einmal, indessen kaufte doch die sächsische Regierung die Maschine für 200 Thaler an und stellte sie auf der Brühlschen Terrasse in Dresden dem Publicum zur Schau. Sodann construirten die Brüder selbander eine Geigenmaschine. Die Maschine war gut, berichtet man, aber die Geigen waren schlecht, die sie lieferte, so schlecht, daß auch die Maschine schlecht gemacht wurde und bald

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_689.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2023)