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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)


No. 37.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.
(Fortsetzung.)

Früher als ihr Vater stieg Moidl am folgenden Morgen in das Thal hinab. Und sie fühlte keine Schwäche mehr. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten. Als sie im Dorfe anlangte und sich dem Gerichtsgebäude näherte, in welchem Hansel saß, eilte sie schneller und preßte die Hand auf’s Herz, um dasselbe zu beruhigen. Flüchtig nur grüßte sie die ihr Begegnenden.

Ohne aufzublicken zu der Zelle des Geliebten, ohne umzuschauen, trat sie in das Haus, und in das Zimmer des Bezirksrichters.

„Guten Tag, Moidl; was bringst Du mir?“ fragte der Richter, über den Besuch erstaunt.

Jetzt wurde das Mädchen sich der Schwierigkeit ihres Entschlusses bewußt. Mit pochendem Herzen und niedergeschlagenen Augen stand sie da.

„Was bringst Du mir, Moidl?“ wiederholte der Richter in freundlicher Weise und streckte ihr die Hand entgegen.

Und sie faßte sich.

„Ich komme des Hansel’s wegen,“ sprach sie.

„Des Hansel’s wegen? Moidl, was geht der Dich an?“ rief der Richter erstaunt.

„Ich hab’ gehört, er werde noch in Gefangenschaft gehalten, weil er nicht sagen wolle, wo er in der Nacht gewesen sei.“

„Das ist richtig. Er weigert sich, es zu gestehen, und ich meine, wenn er ein gutes Gewissen hätt’, dann würde er es sagen.“

„Er hat ein gutes Gewissen!“ rief das Mädchen. „Ich – ich kann es Ihnen sagen.“

„Du, Moidl?“

„Ja – er ist in der Nacht bei mir gewesen, wir haben uns dort oben getroffen. Er hat dies nicht gestehen wollen, um mich zu schonen, aber ich brauch’ keine Schonung, denn Gott ist mein Zeuge, daß unsre Lieb’ eine ehrbare gewesen ist.“

Dem Richter war es, als ob ein Schleier von seinen Augen genommen werde. Er hatte von der Liebe der beiden jungen Menschen keine Ahnung gehabt. Nun begriff er Hansel’s Schweigen – es wurde ihm Manches klar, was er nicht begriffen. Nur der eine Punkt blieb noch unaufgeklärt – wie war der Unterburgsteiner in die Schlucht gekommen?

„Setz’ Dich, Moidl, hier, mir gegenüber,“ sprach er zu dem vor Erregung zitternden Mädchen. „So! Und nun erzahl’ mir, wie es gewesen ist, ganz offen und wahr.“

„Ich werde die Wahrheit sagen,“ versicherte Moidl und blickte den Richter offen an. Dann erzählte sie, wie sie den Hansel liebe und ihm gelobt habe, sein Weib zu werden. Der Unterburgsteiner hab’ um ihre Hand angehalten, ihr Vater habe ihm dieselbe zugesichert, aber sie habe sich dagegen gesträubt. Ihr Vater habe sie dann nicht mehr in’s Thal zur Messe gehen lassen, da sei Hansel zu ihr gekommen, und wöchentlich hätten sie sich mehrere Male getroffen, bis der Unterburgsteiner einen Anschlag auf Hansel’s Leben ausgeführt. Um seinem Feinde auszuweichen, habe Hansel dann seit Wochen seinen Weg durch die Schlucht genommen, weil derselbe aber so schwierig gewesen, sei er stets nur am Sonnabend Abend spät gekommen. Auch in jener Nacht sei er oben gewesen, und sie habe ihn beredet, einen anderen Rückweg einzuschlagen, er habe dies indessen abgelehnt, weil er auf einem anderen Wege die Tücke des Unterburgsteiners gefürchtet habe. Er sei in jener Nacht erst kurze Zeit von ihr gegangen gewesen, da sei die Lawine niedergefahren und sie habe ihn für verloren gehalten. Weiter wisse sie nichts und sie wisse auch nicht, in welcher Weise er gerettet worden sei.

„Wie ist aber der Unterburgsteiner in die Schlucht gekommen?“ fragte der Richter.

„Ich weiß es nicht,“ gab das Mädchen zur Antwort. „Aber ich vermuthe, er hat des Hansel’s Weg entdeckt und einen neuen Anschlag auf sein Leben ausführen wollen.“

„Du wirst Recht haben, Moidl,“ sprach der Richter. „Nun sag’ mir aber, weshalb Du nicht früher zu mir gekommen bist und mir dies Alles gesagt hast.“

„Konnt’ ich dies denn? Als Alle sagten, daß Hansel David erschlagen habe, da habe auch ich in Verzweiflung um ihn gebangt. Wohl traute ich ihm eine solche That nicht zu, aber wenn der Unterburgsteiner ihm auf dem Rückwege entgegengetreten war, wenn sie an einander gerathen waren, sie haßten sich ja Beide, dann konnte er sich vom Zorne haben hinreißen lassen. Erst seit letztem Sonntag wußte ich, daß er unschuldig war.“

„Wodurch?“

„Ich ging zum ersten Male wieder zur Messe, der Weg wurde mir schwer, weil ich mich noch schwach fühlte, und ich hatte mich verspätet. Als ich hier am Hause vorüberging, rief Hansel meinen Namen und rief mir zu, daß er unschuldig sei. Da wußt’ ich es, denn mir konnt’ er keine Unwahrheit sagen. Als dann der Unterburgsteiner in dem Schnee gefunden wurde und sich herausstellte, daß er nicht erschlagen war, da glaubt’ ich, der Hansel müsse nun freikommen. Gestern erzählte der Gerichtsdiener meinem Vater, daß der Hansel in Haft bleibe, weil er

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