Seite:Die Gartenlaube (1883) 586.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

vom Kaiser gesichert wurde, welcher sich in geistlichen die protestantischen Fürsten vom Papste erfreuten. An der Souveränitätssucht der Glieder erkrankte der ganze Körper des Reiches, und wenn es noch 150 Jahre dauerte, ehe es dieser verderblichsten Staatskrankheit ganz erlag und dem Namen nach von der Karte Europas verschwand, so verdankte es dies nur der unverwüstlichen Kraft des Volkes. Daß trotz aller Leiden und der tiefen Erniedrigung, in welche dasselbe versunken und niedergedrückt war, der Kämpfmuth noch in den Herzen festsaß, dafür sollte Wien sich das glänzendste Zeugniß des siebenzehnten Jahrhunderts erwerben.

Die achtziger Jahre jenes Jahrhunderts brachten über Deutschland abermals Verluste und bedrohten es mit Gefahren, die nicht nur den Bestand des Reiches in Frage stellten, sondern vor denen alle Völker westeuropäischer Bildung zittern sollten. Zwei Bollwerke pries damals der Deutsche am höchsten, denn sie bildeten den stärksten Schutz gegen die zwei mächtigsten und unversöhnlichsten Feinde Deutschlands, Straßburg gegen die Franzosen und Wien gegen die Türken. Kaiser Karl der Fünfte soll einst den Ausspruch gethan haben: „Wenn die Franzosen vor Straßburg und die Türken vor Wien stünden, so würde ich Wien fahren lassen und Straßburg retten.“ Und nun war Straßburg, ein Hauptsitz deutscher Gelehrsamkeit und Kunst und die feste Stätte eines kerndeutschen Bürgerthums, seit dem 30. September 1681 für das Reich verloren, und der Fürst Egon von Fürstenberg, welcher es an Ludwig den Vierzehnten mit verrathen, hatte als Bischof von Straßburg zu dem Verbrechen noch die Schmach gefügt, dem französischen König bei dessen „Siegereinzug“ den Gruß Simeon’s zuzurufen: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen!“ - Und nach dieses selben Königs Willen sollte jetzt Wien den Türken überliefert werden.

Ludwig der Vierzehnte, der sich als mächtigster König Zeit fühlte, strebte in der Unersättlichkeit seines Ehrgeizes nach der, trotz aller inneren Schwäche des Reichs, in den Augen der Welt doch noch glänzenden Kaiserkrone. Bei der erprobten Feilheit mancher Reichsfürsten mochte ihm die Erreichung dieses Ziels nicht gar schwer erscheinen. Wirklich bot sich auch die Gelegenheit dazu. Kaiser Ferdinand der Dritte starb am 2. April 1657, sein Sohn gleichen Namens, der bereits König von Ungarn und Böhmen und zum künftigen Kaiser gewählt war, starb noch vor ihm, und so stand der Thron des Reichs erledigt da. Sofort eilten französische Gesandte an alle Kurhöfe, um Ludwig’s Wahl zum römischen Kaiser deutscher Nation zu betreiben. Schon waren die drei geistlichen Kurfürsten am Rhein für ihn gewonnen; um so kräftiger traten die protestantischen Fürsten für die Wahl eines deutschen Oberhauptes auf. Sie fiel auf den zweiten Sohn Ferdinand’s, der als Leopold der Erste den Thron bestieg. Ludwig sann auf Rache, und da Wien nicht seine zweite Hauptstadt geworden war, so sollte fortan ein türkischer Pascha dort seinen Sitz erhalten. Seitdem hetzten französische Sendlinge insgeheim unaufhörlich Türken und Ungarn zum Krieg gegen den Kaiser, während er das Reich im Westen nie zur Ruhe kommen ließ.

Die Wahl Leopold’s zum Kaiser war, wenigstens für die protestantischen Fürsten, wenn sie auf eine dankbare Schonung für ihre Glaubensgenossen in den Ländern des Habsburgers gehofft hatten, eine verfehlte. Leopold war, ursprünglich zum Geistlichen bestimmt, von Jesuiten erzogen und blieb ihr folgsamer Zögling bis an sein Ende. Diese Glaubensrichtung und der enge Schnürleib spanischer Hofsitte, in welchem er sich bewegen mußte, konnte nur einen abgeschlossenen, unzugänglichen Menschen, keinen Mann aus ihm machen. Nicht was er that, sondern was er geschehen ließ, bildet die traurige Geschichte seiner Regierung.

Trotzalledem begünstigte ihn in seinen ersten Kämpfen gegen die Türken das Glück. Die allgemeine Türkenfurcht trieb ihm Hülfe vom Reich, selbst von Spanien und Venedig zu, und sogar Ludwig der Vierzehnte sandte ihm, um öffentlich den Schein seiner „allerchristlichsten“ Majestät zu retten, 6000 Mann unter dem Herzog von La Fouillade. Von tüchtigen Feldherren, Montecuculi, dem Grafen von Waldeck und dem General Spork geführt, errang das Heer den großen Sieg bei St. Gotthard, am 1. August 1663, welcher die Türken zwang, zu Vasvar einen Frieden auf zwanzig Jahre zu schließen.

Leider wurde dieser Sieg von der alleinherrschenden Jesuiten-Camarilla nur dazu benutzt, um die Ungarn, die man schon in ihren Rechten vielfach gekränkt hatte, nun, namentlich durch die heftigsten Verfolgungen aller Protestanten, deren Geistliche man sogar in großer Zahl gefangen nahm und auf die Galeeren verkaufte, zu offener Empörung zu zwingen. Der Uebermuth der Soldateska, welcher jede Frevelthat gegen den Landmann und „Ketzer“ freigegeben zu sein schien, zerriß das letzte Band der Pflicht. Der Adel, voran die Grafen Zriby, Nadasdi und Ragoczy, stellte sich an die Spitze einer Verschwörung.

Als diese entdeckt worden und ihre Häupter dem Blutgericht verfallen waren, stellte sich Emerich Tököly, das Haupt der ungarischen Protestanten, an die Spitze der Empörer, und sie wurden sowohl von dem französischen „Sonnenkönig“ Ludwig dem Vierzehnten (der gerade damals das Edict von Nantes aufhob und die Hugenotten vertrieb), als von dem spätern Türkenbesieger, dem Polenkönige Johann Sobieski, mit Geld und Mannschaft unterstützt. Sie bemächtigten sich der Münzstätten in Oberungarn und ließen Ducaten prägen, welche theils das Bild Ludwig’s des Vierzehnteu mit der Umschrift „Beschützer der Ungarn“, theils dasjenige Tököly’s als Fürsten der von ihm besetzten Gebiete mit der Inschrift „Für Religion und Freiheit“ trugen. Der Kaiser sah sich genötigt, mit den Insurgenten um Frieden zu verhandeln, aber die Franzosen und Türken verleiteten durch ihre Versprechungen Tököly zu so hoch gespannten Anforderungen, daß sich Alles zerschlug, und nun riefen Magyaren und Türken den Rebellenführer zum „Könige von Ungarn“ aus. Unter diesen Umständen brach das verhängnißvolle Jahr 1683 an.

Es fand Deutschland in einer sehr mißlichen Lage. Die ultramontane Politik Oesterreichs hatte dem Kaiser fast alle deutschen Fürsten entfremdet; nur Baiern stand beharrlich zu demselben. In Ungarn machte Tököly reißende Fortschritte und nahm dem Kaiser fast alles ihm noch übrig gebliebene Land weg, wozu ihn vorzüglich die fortgesetzt ihm zufließenden französischen Hülfsgelder befähigten. Die Türken aber fanden diese Constellation ihrem alten Streben, in Mitteleuropa Fuß zu fassen und das Christenthum zu vernichten, im höchsten Grade günstig. Der allmächtige Großwesir Kara Mustapha, den die Lorbeeren seiner ebenso siegreichen, als grausamen Vorgänger nicht ruhen ließen, riß den Sultan Mahommed den Vierten zum Kriege fort, rüstete mit allen Kräften und anerkannte Tököly, welcher unterdessen die Kaiserlichen mit fruchtlosen Unterhandlungen arglistig hinhielt, als Vasallenfürsten von Ungarn, dessen Reichsinsignien er ihm sandte.

Schon im October 1682 begab sich der Sultan nach Adrianopel, um gegen Oesterreich aufzubrechen, dessen Gesandten Caprara der Wesir immer noch in Sicherheit wiegte. Lange genug dauerte in Wien die Verblendung, als stände kein Krieg bevor, und als der Schleier der Täuschung endlich zerriß, da sah sich der Kaiser fast ohne Bundesgenossen, denn die westeuropäischen Staaten fanden sich genöthigt, ihre Unabhängigkeit gegen Frankreich zu wahren, das somit die Interessen der Türkei wacker vertrat; in England aber ging die Revolution gegen das Haus Stuart ihren Gang, in den auch Holland hineingezogen wurde. Baiern war der erste Staat, der dem Kaiser werkthätige Hülfe zusagte. Ueberraschender Weise aber folgte jetzt auch Polen nach, dessen König, von Ludwig dem Vierzehnten empfindlich beleidigt, mit Frankreich brach und am 31. März 1683 mit Kaiser Leopold das folgenreiche Bündniß schloß.

Jetzt wurde auch in Wien eifrig gerüstet. Es waren 80,000 Mann in Aussicht genommen. Gegen 30 neue Regimenter zu Fuß und zu Pferd wurden errichtet. Der tapfere Herzog Karl von Lothringen wurde zum Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres ernannt.[1] Eben von schwerer Krankheit genesen, traf er im April 1683 aus Innsbruck, wo er Statthalter war, in Wien ein und verbesserte sofort die bisher ungenügenden Verteidigungsmaßregeln.

Bei Kittsee wurde am 6. Mai große Heerschau über 40,000 Mann deutscher und ungarischer Truppen abgehalten, welcher der Kaiser, die Kaiserin und der Kurfürst von Baiern beiwohnten.

Unterdessen hatte sich das türkische Heer, 200,000 Mann stark, in Bewegung gesetzt. Ein Wolkenbruch bei Adrianopel, der


  1. Ueber König Joh. Sobieski, Herzog Karl und Graf Starhemberg fügen wir Ausführlicheres dem Schlusse dieses Artikels an.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_586.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)