Seite:Die Gartenlaube (1883) 563.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Der lag trübe, halb in Nebel gehüllt, da. Weshalb schien die Sonne nicht, weshalb war die Luft nicht klar? Er würde das Fenster aufgerissen und einen Jauchzer so laut in die Morgenluft hinausgerufen haben, daß er hinüber gedrungen wäre über das Thal und der Geliebten die freudige Botschaft seiner Rettung überbracht hätte!

Als er in die Stube hinabging, empfing ihn sein Vater ohne Vorwurf, aber schweigend. Derselbe fragte nicht nach der Ursache seiner Verletzung, er schien dieselbe nicht sehen zu wollen.

Seine Eltern rüsteten sich, um zur Messe zu gehen, er blieb zurück, denn mit zerschundenem Gesichte mochte er sich nicht zeigen. Er fürchtete die Fragen.

Seine Eltern hatten bereits das Haus verlassen, als seine Mutter noch einmal zurückkehrte.

„Hansel, Du gehst heute nicht zu Thal?“ fragte sie.

„Nein, Mutter.“

„Und wenn ich gefragt werd’, weshalb Du nicht kommst, was soll ich sagen?“

Hansel zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

„Sag’, ich sei auf die Gemsjagd gegangen,“ sprach er dann.

„Hansel, soll ich die Unwahrheit sagen?“ mahnte die Frau ernst. „Ich geh’ zur Meß’, da kann mein Mund nicht lügen.“

„Dann sag’, ich fühle mich unwohl,“ entgegnete Hansel verlegen.

Seine Mutter ging schweigend fort. Er blickte ihr nach durch das Fenster. Sagte sie nicht doch die Unwahrheit?

Nachdenkend stützte er den Kopf auf die Hand. Es lag schwer auf seiner Brust; zweimal war er dem Tode nur mit Noth entgangen. So wunderbar seine Rettung war, so konnte er sich derselben doch nicht aus vollem Herzen freuen.

Dann sann er nach, ob es kein Mittel gebe, die Geliebte von seiner Rettung in Kenntniß zu setzen. Sollte er ihr schreiben? Wo fand er einen Boten, der den Brief überbrachte? Vielleicht klärte sich die Luft mehr auf und er war im Stande, ihr irgend ein Zeichen zu geben.

Müde und zerschlagen legte er sich auf die Ofenbank.

Seine Eltern kehrten aus der Messe zurück. Sie brachten keine Neuigkeiten aus dem Thale mit, denn sie hatten nur mit wenigen Bekannten einige Worte gewechselt. Hansel mochte auch nicht fragen, denn ihm bangte doch, sie könnten erfahren haben, daß er in der Nacht zuvor nicht in dem „Elephanten“ gewesen war.

Nach dem Mittagsessen begab er sich auf seine Kammer und legte sich aufs Bett, um zu schlafen. –

Während dem herrschte unten im Dorfe große Aufregung. Die Knechte des Unterburgsteiners forschten nach ihrem Herrn. Als sie zur Messe gegangen waren, hatte derselbe seine Kammer noch nicht verlassen, sie hatten jedoch nicht nachgeforscht, weil sie geglaubt, er habe am Abende zuvor sich einen Rausch getrunken und schlafe denselben aus. Als er nach ihrer Heimkehr sich noch immer nicht gezeigt hatte, waren sie in seine Kammer gedrungen und hatten dieselbe leer gefunden. Sein Bett war unberührt gewesen. Sie waren überzeugt, daß ihm ein Unfall begegnet war. Es fehlte auch seine Büchse, welche sonst neben seinem Bette an der Wand hing. Daß der Unterburgsteiner während der Nacht auf die Jagd gegangen sei, hielt Jeder für unmöglich, denn so thöricht war er nicht, um bei dem eintretenden Thauwinde in die Berge zu steigen. Ohnehin war es so dunkel gewesen, daß er ein Wild nicht hätte sehen können.

Eine bange Stimmung hatte sich Aller bemächtigt. Der Burgsteiner war kein Kind, der ohne Noth sein Gehöft verließ und sich in den Bergen verlief. Sollte er seine Verlobte besucht haben und auf dem Heimwege verunglückt sein? Auch dies mochte Niemand glauben, denn es war kein Geheimniß geblieben, daß die Moidl sich sträubte, Davids Weib zu werden. Die Magd des Unterburgsteiners hatte dies längst ausgeplaudert. Etwas Ungewöhnliches mußte geschehen sein.

Unwillkürlich dachten die Meisten an ein Zusammentreffen mit seinem Gegner – mit Hansel. Daß beide sich haßten, wußten alle. Man erinnerte sich, welche wilde Drohung Hansel vor Wochen in dem Wirthshause gegen David ausgesprochen hatte. Weshalb war er nicht zur Messe gekommen? Manche glaubten bemerkt zu haben, daß seine Eltern, als sie zur Kirche gegangen, besonders still und niedergedrückt gewesen seien.

Noch wagte Niemand, einen Verdacht gegen Hansel auszusprechen, denn wie sollten die beiden Gegner während der Nacht an einander gerathen sein? Da erzählte eine alte Frau, die Haidacherin habe ihr auf dem Kirchwege am Morgen mitgetheilt, daß ihr Sohn im Gesicht und an den Händen arg zerschunden sei und deshalb nicht zur Messe gehen könne. Er habe in der Nacht zuvor in dem „Elephanten“ gezecht und zuviel getrunken, da habe er auf dem Heimwege den Pfad verfehlt und sei von einem Felsen gestürzt.

„Er ist nicht im ‚Elephanten‘ gewesen und auch in der ‚Post‘ nicht!“ riefen Mehrere gleichzeitig, und nun war keiner mehr in Zweifel, daß er mit dem Unterburgsteiner zusammengerathen war. Hatte er doch gedroht, ihn zu vernichten, wie er ein Glas zerschelle.

„Er hat ihn erschlagen!“ riefen diejenigen, welche auf des Vermißten Seite standen.

Die Freunde Hansel’s wagten nicht, an seiner Schuld zu zweifeln, aber sie versuchten ihn in Schutz zu nehmen, damit das Gericht nicht sofort gegen ihn einschreite und er Zeit gewinne zur Flucht.

„Noch ist es nicht erwiesen, daß er schuldig ist,“ warf Sepp Plankensteiner ein.

„Seine eigene Mutter hat erzählt, daß er im Gesicht und an den Händen arg zerschunden ist!“ riefen ihm Mehrere entgegen. „In dem ‚Elephanten‘ ist er nicht gewesen. Es wird ein harter Kampf gewesen sein, denn David war ihm gewachsen.“

Auch Franz Steger nahm sich des Freundes an.

„Und wenn er mit ihm gerauft hat, ist dadurch erwiesen, daß ihn eine Schuld trifft?“ sprach er. „Wer weiß, wo sie sich getroffen haben und wie sie an einander gerathen sind. Der Unterburgsteiner kann übel zugerichtet sein, er kann sich bei einem Freunde verbergen, bis die schlimmsten Wunden geheilt sind, denn er ist stolz und wird sich scheuen, dieselben offen zu zeigen. Noch hat keiner ein Recht, auf den Hansel eine Schuld zu werfen. Erst muß doch erwiesen sein, daß dem Unterburgsteiner an Leib und Leben geschadet ist.“

„Du hast Recht,“ fiel Sepp ein. „Als beide auf dem Hofe des ‚Elephanten‘ rauften und Hansel den David warf, da hätte dieser sich auch leicht den Kopf zerschlagen können, und den Hansel würde keine Schuld getroffen haben. Vielleicht sitzt der Unterburgsteiner schon jetzt in seinem Hause und mag sich den Leuten nicht zeigen, weil er übel zugerichtet ist.“

„Sind die beiden allein und zur Nachtzeit an einander gerathen, dann ist es nicht beim Raufen geblieben,“ entgegneten Mehrere, aber Steger’s Worte hatten doch den Einfluß ausgeübt, daß Niemand den Hansel eines Verbrechens zu beschuldigen wagte. Der Tod des Unterburgsteiners mußte ja erst festgestellt sein.

Das Gespräch drehte sich an diesem Tage nur um diesen Gegenstand, und alle Möglichkeiten wurden mehr denn zehnmal erwogen. Eins blieb Allen unerkärlich, wie Hansel und David zur Nachtzeit sich getroffen hatten, denn durch die Magd Davids war es festgestellt, daß dieser am Abende sein Gehöft nicht verlassen hatte. Als sie sich zur Ruhe gelegt, war er noch in dem Wohnzimmer gewesen.

Spät am Abend kam ein Knecht vom Unterburgstein in den „Elephanten“ und berichtete, daß von seinem Herrn noch keine Spur aufgefunden sei. Stundenlang habe er mit mehreren Bauern nach demselben gesucht. Sie seien auch auf dem Oberburgstein gewesen. Der Bauer sei über das Verschwinden seines künftigen Schwiegersohnes sehr erschrocken, könne aber auch keine Auskunft geben.

Als der Bezirksrichter am folgenden Morgen, von einem Gensdarm begleitet, durch das Dorf hinschritt und langsam den Berg emporstieg, da wußten wohl Alle, die ihn sahen, wohin er ging. Die Leute traten vor die Thür und blickten ihm nach.

„Er holt den Hansel,“ sprach der Eine zu dem Anderen.

„Seine Schuld muß doch erwiesen sein, sonst würden sie ihn nicht holen,“ warf ein Dritter ein.

„Weißt Du genau, ob sie ihn holen?“ fragte ein Färber, der zu den Sprechenden trat. „Wenn er schuldig ist, dann wird er längst über die Berge sein, denn er hat ja Zeit genug gehabt, und ich kann’s ihm nicht verdenken.“

„Der Richter wird schon wissen, was er thut,“ bemerkte der Nachbar des Färbers, welcher mit diesem nicht auf dem besten Fuße lebte.

„Ich weiß es auch!“ rief der Färber lachend. „Wenn er das Nest leer findet, kehrt er leer zurück. Das würd’ ein Andrer genau ebenso machen.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_563.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)