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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Aber konnte nicht doch der Zufall einen Zeugen herbeiführen? Konnte er ungesehen in die Berge steigen und ungesehen zurückkehren?

Seine That paßte nicht für das Tageslicht. Nur in dem Dunkel der Nacht konnte sie ausgeführt werden, da hatte er keine Zeugen zu befürchten, denn die Felsen und die Bäume konnten nicht reden.

Mit einer dämonischen Macht hatte dieser Gedanke ihn erfaßt und ließ ihn nicht wieder los. Der Haß machte ihn blind. Er glaubte Alles so klug zu beginnen, daß ihn nicht einmal ein Verdacht treffen könne. Und wenn dies wirklich der Fall war – wer konnte gegen ihn auftreten? Die Nacht war seine Beschützerin.

Nach wie vor stieg er jeden Tag zum Oberburgstein empor und zwang sich, möglichst unbefangen und heiter zu erscheinen. Wenn aber des Abends seine Knechte und Mägde schliefen, verließ er heimlich mit der Büchse sein Gehöft und legte sich im Walde hinter einem Felsen auf die Lauer.

Manche Stunde und manche Nacht lag er dort, er wechselte den Ort, ohne daß er den Verhaßten ein einziges Mal traf. Es unterlag für ihn keinem Zweifel, daß derselbe einen andern Weg einschlug, um mit der Moidl zusammen zu treffen.

David’s großer Körper war trotz all seiner Stärke solchen Aufregungen und Beschwerden nicht gewachsen. Sein ganzes bisheriges Leben hatte sich in engen Grenzen bewegt. Er war abgespannt, und je mehr diese Abspannung wuchs, um so fester hielt er den einmal gefaßten Gedanken. Daß er nur durch den Tod des Welschen in den Besitz des Mädchens gelangen könne, war bei ihm zur fixen Idee geworden.

Wo sollte er Hansel’s Spur suchen, da durch die Holzknechte und Waldarbeiter viele Wege getreten waren?

Ein frischer Schneefall kam ihm zu Hülfe. Es schneite zwei Tage lang und eine dichte, weiße Hülle lag auf den Bergen ringsum. Er kannte Hansel zu gut, um sich nicht zu sagen, daß sich derselbe dadurch nicht werde zurückschrecken lassen, aber in dem Schnee mußte er die Spur seiner Füße zurücklassen, und er wandte einen Tag daran, diese Spur aufzusuchen. Wohl lief er selbst Gefahr dabei, aber es gelang ihm, das Gesuchte zu finden, und mit Bestimmtheit glaubte er die Tritte des Welschen zu erkennen. Er verfolgte sie. Auf weitem Umwege umgingen sie seine Besitzung und führten zum Oberburgstein. Unter einem überhängenden Felsen verloren sie sich. Er forschte weiter und entdeckte an der anderen Seite die Spuren kleinerer Füße – sie rührten von Moidl her.

In wilder Freude hätte er aufjauchzen mögen. Hier trafen sie sich also! Auf dem Steine vor ihm saßen sie und hielten sich umschlungen. Erbittert und zitternd vor Wuth lachte er auf. Wie oft sie sich hier wohl noch treffen würden?

Auf demselben Wege kehrte er zurück, um seine eigenen Fußspuren zu vernichten. –

(Fortsetzung folgt.)




Einweihung der neuen Tells-Capelle.

Die Ueberzeugung des Schweizervolkes, mit Ausnahme der Historiker und einer Anzahl sonst wissenschaftlich Gebildeter, von der stricten Wahrheit der Erzählungen von Tell und dem Rütlibund ist sicher nicht minder fest, wie es die der alten Griechen von der Existenz ihres Herakles und Theseus und der Römer von Romulus und Remus nur immer sein konnte. Dies hat denn auch das soeben gefeierte Fest der Einweihung unserer neuen Tells-Capelle bewiesen, welche an der Stelle ihrer baufälligen Vorgängerin errichtet und während der letzten Jahre mit hervorragenden Kunstwerken geschmückt worden ist.

Aus dem bunten und bewegten Leben und Treiben auf dem Platze der schweizerischen Landesausstellung in Zürich, wo die Maschinen mit ihren Rädern und Hämmern schwirren und sausen, rissen wir uns am 24. Juni los, einem herrlichen Sommertage, der für lange anhaltendes Regenwetter in wohlthuender Weise entschädigte und die erschlafften Lebensgeister von Neuem zum Schaffen und Wirken aufweckte.

Lustig brauste der Zug der zukunftsreichen Gotthardbahn zwischen die herrlich grünenden Vorberge und smaragdgrünen Seen der unvergleichlichen Urschweiz hinein und brachte uns über das bald hundertjährige von Trümmern riesiger Felsen bedeckte Grab des Bergsturzes von Goldau in das unmittelbare Angesicht der majestätischen Eisfirnen des Uri-Rothstocks. Es war eine zugleich heitere und feierliche Stimmung, die wir auf dem prächtigen Quai vor dem imposanten „Waldstätterhof“ in Brunnen trafen. Eine ungewöhnliche Anzahl meist festlich schwarzgekleideter Herren, mit weiß und rother Rosette auf der Brust, spazierten unter den schattigen Bäumen herum oder saßen bei einer Erfrischung zusammen und erneuerten alte oder machten neue Bekanntschaften. Es blieb uns aber nur wenig Zeit übrig, diesem Treiben zuzuschauen, denn bald schnaubte der kolossale Salondampfer „Germania“ heran, reich bekränzt und mit den Flaggen der Schweiz und aller ihrer Cantone geschmückt. Die Festgesellschaft bestieg ihn, voran die Abgeordneten der Bundesbehörden und mehrerer Cantone, dann die Mitglieder des Kunstvereins und die Vertreter der Presse. Es war eine wundervolle Fahrt auf dem spiegelklaren See zwischen den steilen, waldigen Anhöhen des Axensteins links und des Seelisbergs rechts; man war so recht im Mittelpunkte des classischen Bodens der Schweiz, und selbst dem Kritiker mußte das Herz sich erheben bei dem Gedanken, daß von diesen Stätten aus die Freiheit des Vaterlandes ihren Anfang genommen hat, mögen auch die Veranlassungen dazu welche nur immer gewesen sein. Die Fahrt war viel zu kurz, um die sich auf ihr darbietenden Wunder der Natur in vollen Zügen zu genießen, und schon nach einer halben Stunde legte der Dampfer an der classischen, wenn auch nur eine Tradition verherrlichenden Tell-Platte an.

Nach der augenscheinlich alterthümlichsten, wenn auch nicht zuerst erschienenen Form der Ueberlieferung, derjenigen des Luzerner Geschichtsschreibers Melchior Ruß, die freilich erst fast zweihundert Jahre nach der Zeit, in welche die Tell-Sage meist verlegt wird, zu Tage trat, wäre die Tellenplatte (deren Name in der ältesten Fassung als eine Orts-, nicht eine Personenbezeichnung erscheint) weit bedeutender als nach der spätern und für die Gläubigen noch jetzt herrschenden Ueberlieferung; denn nach derselben erschoß Tell den Landvogt unmittelbar nach seinem Sprung aus dem Schiffe, von der Platte aus, welche That auch überdies männlicher und würdiger dastände, als die in der „hohlen Gasse“’ bei Küßnacht, einem Orte, an welchem niemals ein „Geßler“ etwas zu thun haben konnte und welcher damals urkundlich erwiesene andere Herren hatte, die niemals Landvögte waren.[1]

Doch was fruchtet all dies? Aegidius Tschudi, Johannes von Müller und der unsterbliche Schiller haben die Sage fixirt, wie sie nun geglaubt wird, und so auch hat sie der wackere Maler Stückelberg aus Basel (vergl. das Portrait auf unserer Illustration) in seinen Fresken mit kräftigen Strichen und patriotisch durchhauchten Farben verewigt.

Die neue Tell-Capelle, fast genau auf der Stelle der alten, ist, wie sich bei ihrer Bestimmung geziemt, einfach und schlicht, aber gefällig und geschmackvoll gebaut. Drei Mauern, gekrönt von einem Ziegeldache und einem schlanken Thürmchen, umschließen sie; die vordere Seite besteht oben aus alterthümlichen sechseckigen Glasscheiben und unten aus einem eisernen Gitter mit zwei Thüren. Zwei diesen entsprechende Rundbogen bestimmen die Eintheilung des Raumes, indem die Hinterwand, auf beiden Seiten des die Mitte einnehmenden Altars, zwei Frescobilder und jede der beiden Seitenwände je ein solches aufnimmt. An der Wand links vom Eingange beschäftigt die überaus reichhaltige Scene nach dem Apfelschuß lange das Auge des Beschauers. Tell steht in stolzer und trotziger Haltung, den „zweiten Pfeil“ drohend in der Hand, vor dem in nachlässig-hochmüthiger Weise zu Pferde sitzenden Geßler, bei ihm mit leuchtenden Blicken der Knabe, dessen gerettetes Leben und zugleich das gefährdete des Gatten die neben ihm knieende Mutter zwischen Freude und Angst schweben macht. Zur Seite setzt ein Scherge bereits die Bande, Tell zu fesseln, in Bereitschaft.

Ferner findet rechts vom Eingange der Rütlischwur seine


  1. Siehe das Weitere in dem Artikel „Tell und der Rütlibund“, „Gartenlaube“ 1872, Nr. 49.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_532.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)