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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Man saß wieder drinnen im Theater, umgeben von brausendem Stimmengewirre. Noch war Alfred weder Blick noch Wort von seiner Nachbarin zu Theil geworden, die, halb abgewandt von ihm, mit der Mama im Gespräche war. Er sah, daß sie noch bemüht war, die unzähligen Knöpfchen des eleganten Handschuhes an ihrer linken Hand zu schließen.

„Wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen zu helfen?“ fragte Alfred.

Sie reichte ihm folgsam, wortlos den Arm hin, der ein wenig zitterte, und während er, über denselben gebeugt, ziemlich ungeschickt die angebotene Hülfe zu leisten suchte, begann er, um einen Anknüpfungspunkt verlegen, in unsicherem Tone:

„Fräulein Rosa“ – so hatte er noch nie gewagt sie anzureden – „ich bin Ihnen noch die gestern verweigerte Auskunft über das bewußte Gedicht schuldig. Mögen Sie noch wissen, was es war?“

„Nun wohl?“ erwiderte sie leise.

Sie kennen ohne Zweifel die reizenden Zeilen Mirza Schaffy’s: ‚Neig’, schöne Knospe, dich zu mir –‘ seine gedämpfte, von verhaltener Bewegung zitternde Stimme stockte, als sie ihm rasch ihren Arm zu entziehen suchte. Zugleich aber schlug sie, halb widerstrebend, die Augen zu ihm auf in demselben Moment, da die Gasflammen im Hause verdunkelt wurden.

Wie ein einziger Sonnenstrahl hatte ihn ein verheißungsvoller, zärtlich-scheuer, seliger Blick getroffen, ehe er in dem plötzlich eintretenden Dunkel erlosch. Einen Ausruf des Jubels gewaltsam zurückdrängend, haschte er nach ihrer rechten, noch unbedeckten Hand und beugte sich tief hinunter, um seine Lippen in heißem Kuß darauf zu drücken.

In der Pause nach dem Schluß des Actes war es höchst merkwürdig, wie schnell Fräulein Rosa Jung und Herr Alfred Berger in der Abenddämmerung draußen durch das Menschengewühl von dem übrigen Theile der Gesellschaft getrennt wurden. Als sie nach Verlauf einer guten halben Stunde endlich wieder auf die besorgten Eltern und Vetter Max stießen, nach denen sie natürlich die ganze Zeit über eifrig gesucht hatten, glühten ihre Wangen und ihre Augen strahlten in ungewöhnlichem Glanze. Ob er inzwischen die übrigen Zeilen des Gedichtes recitirt hatte? Ob er ihr dann eine beredte Schilderung von der Seelenqual der letzten Tage entworfen? – Ob sie behauptete, ganz unschuldig an seinem Irrthum wegen Vetter Max zu sein, oder ob sie ihm gestanden, daß sie eine kleine Bestrafung des Verbrechens am ersten „Parsifal“-Abend für unumgänglich nothwendig gehalten habe?

Mit Sicherheit läßt sich nichts darüber behaupten. Wohl aber darf man berichten, daß Alfred Berger am nächsten Morgen in Begleitung der Familie Jung nach Nürnberg reiste, nachdem er vorher dem Herrn und der Frau Commerzienrath eine feierliche und inhaltschwere Visite abgestattet hatte, deren Erfolg zierlich bedruckte Karten für die gesammte Verwandt- und Freundschaft zweier bald in engste Verbindung tretenden Familien nothwendig machte.

So war es geschehen bei der Bayreuther „Parsifal“-Aüfführung im vorigen Jahre. Wir dürfen es dem Leser wohl verraten, daß bei dem diesjährigen Bühnenweihfeste in Bayreuth einzelne Familien-Scenen des vorigen Jahres im Zuschauerraume sich wiederholten. Wieder saß eine ältere Dame mit der „Parsifal“-Partitur da, und abermals neben ihr ein junges Paar, welches, auf seiner Hochzeitsreise begriffen, es nicht versäumen wollte, „Parsifal“ als seinem Ehestifter seine dankbare Huldigung darzubringen, und zwar zum stillen Entzücken der Frau Mama, welche das stolze Bewußtsein im Busen trug, dem Genius Richard Wagner’s zwei ewig treue Verehrer gewonnen zu haben.




Bilder von der Ostseeküste.

3.00Land und Leute in Kurland.

Ein schmucker Dampfer trägt uns leicht durch die grünen Wellen der Ostsee nach dem Norden. Schon haben wir Memel, die letzte größere Stadt des deutschen Reiches, hinter uns, schon sind die durch ihre sonderbaren Namen jedem Reisenden auffallenden russisch-preußischen Grenzorte Nimmersatt und Immersatt, schon ist Polangen mit seinen noch jungen Bade-Anlagen und seiner Bernsteinfabrik passirt; wir fahren bei herrlichem Wetter und günstigem Wind in russischem Gewässer längs der waldbesäumten kurischen Küste; der wettergebräunte, stumme Mann am Steuer hält steil auf Nord. Da tauchen fern am Horizonte, von den Strahlen der Nachmittagssonne beglänzt, Thurmspitzen und langsam kreisende Windmühlenflügel auf; einige bleiche, verstörte Gestalten, die trotz der günstigen Fahrt doch dem erderschütternden Beherrscher der nassen Pfade ihren Tribut gezollt, erscheinen unsichern, zögernden Schrittes und schauen mit Sehnsucht nach dem Endpunkt ihrer Leiden aus; ein Lootse klimmt an Bord und führt uns glücklich über die Barre und durch die scheerenartig in’s Meer vorspringenden Molen in den Hafen der „Wunderstadt“ Libau.

Langsam schwebt unser Steamer an dem schlanken, gußeisernen Leuchtthurm, an dem unförmlich dicken Lootsenthurm, auf dem unsere Ankunft schon signalisirt ist, vorbei und hält vor dem neuen stattlichen Zollgebäude. Bald sind die unerläßlichen Zollmanipulationen vorbei; wir haben keine unziemliche Quantität von Branntwein und Tabak, keine Spielkarten, keine Seidenkleider, auch keine verbotenen Schriften eingeschmuggelt, unser Paß ist in Ordnung, Petroleum und Dynamit führen wir nicht – so bleibt uns noch volle Muße, die seit einigen Jahren auch in Deutschland vielgenannte „Wunderstadt“ zu besehen.

Wir erinnern uns der prophetischen Geringschätzung, mit der der deutsche Reichskanzler ihr vor wenigen Jahren eine gedeihliche, für die ostpreußischen Hafenplätze gefahrdrohende Entwickelung kurzweg absprach, wir halten dagegen die früher immer wiederkehrenden Memoriale und Denkschriften der Memeler und Königsberger Kaufmannschaften, die mit banger Sorge von der unheimlich steigenden Concurrenz Libaus reden, und finden beim Anblick des mit dichtem Mastenwald besetzten, neu ausgebauten Hafens, der kolossalen, neu errichteten Speicher, des bergehoch auch auf den Quais aufgethürmten Getreides und des ameisenartigen Gewimmels die Sorge der letztern nicht unbegründet.

Ein einheimischer Freund, der uns erwartet, bestätigt unsere Wahrnehmungen und fügt mit stolzer Freude hinzu, daß in dem letzten Decennium die Einwohnerzahl der Stadt um’s Dreifache (von 10,000 auf 30,000), der Handelsumsatz, der jetzt 44 Millionen Rubel betrage, um’s Zehnfache, die Zahl der auslaufenden Schiffe (gegen 2000) um’s Fünffache gestiegen sei. „Freilich,“ sagt er und kratzt sich dabei etwas unbehaglich hinter dem Ohre, „wir haben auch unsern Krach gehabt, große Handelsfirmen und Banken sind gefallen, der Credit unseres Platzes war zeitweise erschüttert, das Speculationsfieber, das vor vier Jahren hier Jung und Alt, Arm und Reich erfaßte, hat seine Opfer gefordert“ – hier hustete er etwas –; „das amerikanische Wachsthum der Stadt, das uns so überraschend kam, hat manchen Schaden im Gefolge gehabt, und der Uebergangszustand von der Kleinstadt zur Großstadt“ – hier reckte er sich unwillkürlich – „hat seine Schattenseiten, aber wir sehen doch getrost in die Zukunft. Haben wir doch unsern prächtigen, eisfreien Hafen – die Barre vor demselben ist allerdings etwas eklig,“ flüsterte er mir in’s Ohr, „doch das wird sich machen lassen – und wenn während des langen Winters unsere baltischen, finnischen und russischen Nachbarhäfen vom Eise blockirt sind, bilden wir die einzige Seepforte des großen russischen Reiches an der Ostsee – denn was will Windau sagen!“ meinte er achselzuckend – „und führen auf langem Schienenstrange aus der Kornkammer Rußlands immense Massen Getreide uns und dem Auslande zu.“ Hier unterbrach ich seinen handelspolitischen Vortrag und bat ihn, mir die Stadt ein wenig zu zeigen. Dazu erklärte er sich denn auch bereit, und so wurde bald ein „Furio angehoit“, das heißt eine Droschke herangerufen.

Langsam fuhren wir durch die wogende Menschenmasse des Quai hinauf, mein Freund zeigte mir mit sichtlicher Genugthuung die beiden neuen stattlichen Hafenbrücken, von denen die eine dem Stadtverkehre, die andere der Eisenbahn dient; dann bogen wir, die Speicher, den Hafen und die ganze Welt Mercur’s hinter uns lassend, in Libaus Hauptverkehrsader, die „große Straße“, ein, und mein ortskundiger, patriotischer Führer zeigte mir die verschiedenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_523.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)