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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Draußen auf dem Festplatze hing sich Rosa wieder eilig an den Arm des Vetters und sagte, sich zur Mama wendend, wobei sie vermied, Alfred anzusehen:

„Ich habe Papa gebeten, mir heute den Platz neben Max zu überlassen. Ich möchte wissen, ob man von da besser sehen kann, da er um einige Reihen tiefer ist, als die anderen.“

„Wie Du willst, Kind, aber störe Max nicht etwa durch Schwatzen und Unaufmerksamkeiten.“

„Ha ha, liebe Mama, Du weißt sehr wohl, daß er sich nicht stören läßt bei solcher Gelegenheit. Im Gegentheil, ich hoffe von seiner Andacht und Versunkenheit angesteckt zu werden. Nicht wahr, Max, Du hast nichts dagegen, wenn ich neben Dir sitze?“

„Wie? Was sagtest Du? Stören? Ganz und gar nicht, Röschen,“ erwiderte dieser zerstreut. „Aber laß uns endlich eintreten.“

Da saßen sie nun, um wenige Sitzreihen tiefer, dicht vor Alfred, der zähneknirschend auf sie hinabschaute.

Es war ja ganz klar, daß sie in diesen Vetter verliebt, wahrscheinlich schon mit ihm verlobt war, denn er nahm ja die Huldigungen der reizenden Cousine mit souverainem Gleichmuth, wie etwas Selbstverständliches hin. Dafür also war er hier geblieben, um, neben dem dicken Commerzienrath eingepreßt, einer Aufführung beizuwohnen, für die er in seinem jetzigen Zustand weder Stimmung noch Verständniß haben konnte. Und da sah sie sich auch noch von Zeit zu Zeit nach ihm um, als ob sie ergründen wollte, welchen Eindruck ihr Benehmen auf ihn gemacht habe. Nun, sie sollte wenigstens nicht den Triumph genießen, ihn noch länger schmachten zu sehen. In der Vorstellung mußte er noch aushalten, aber dann ging ja wohl ein Nachtzug, den er benutzen konnte, um endlich sein eigentliches Reiseziel zu erreichen und in den Schweizer Bergen bald die ganze Episode zu vergessen.

Als man nach dem Schluß des ersten Actes wie gewöhnlich das Haus verließ, nahm sich Alfred vor, die Zwischenzeit nicht mit der Familie Jung zu verbringen. Unter dem Vorwande, er habe sie im Gedränge plötzlich aus den Augen verloren und nicht wieder finden können, wollte er seinen gekränken Gefühlen wenigstens die Qual ersparen, Rosa beständig am Arme des verhaßten Vetters neben sich zu sehen. Er war im Begriff, unbemerkt um eine Ecke zu verschwinden, als die junge Dame sich gewandt zu ihm und dem Papa durchdrängte und rief:

„Wenn es Ihnen recht ist, Dir, Papa, und Herrn Berger, so schließe ich mich hier an, denn auf Maxens Ritterdienste kann ich augenblicklich nicht zählen. Sieh nur, wie er auf Mama losgestürzt ist und es kaum erwarten kann, bis er all seinen Enthusiasmus in ihr mitfühlendes Herz ausgeschüttet hat! Ich denke, wir Drei gehen ein wenig hinüber nach der anderen Seite des Platzes, wo es nicht so gefüllt ist. Sie werden uns jetzt nicht vermissen.“

Der Papa folgte gutgelaunt den Anordnungen des Töchterchens, und auch Alfred konnte nicht widerstehen, so sehr er sich innerlich ob dieser Schwäche schalt. Veranlaßt durch die reizende Aussicht, welche sich vom Festplatz aus bietet, gerieth das Gespräch auf die lieblichen Umgebungen von Bayreuth.

„Hast Du mit Mama schon eine Fahrt nach der ‚Fantasie‘ gemacht?“ frug der Commerzienrath die Tochter.

„Nein, noch nicht. Wir warteten, weil Mama meinte, Du würdest gern dabei sein. Weißt Du, Papa, wir sollten morgen dahin fahren, und Du solltest Herrn Berger einladen mit uns zu kommen. Nicht wahr, Sie kennen die berühmte ‚Fantasie‘ auch noch nicht?“ wandte sie sich mit ihrem bezauberndsten Lächeln zu Alfred, der plötzlich vergaß, daß er noch heute, mit dem Nachtzug, aus dem Banne dieser schelmischen Augen entfliehen wollte.

Der Commerzienrath versicherte, Herr Berger sei selbstverständlich auch bei dieser Gelegenheit als Gast willkommen. Dieser zögerte noch einen Augenblick, nahm aber schließlich die Einladung dankend an, worüber Fräulein Rosa sichtlich in die Stimmung gerieth, die sie durch erhöhte Liebenswürdigkeit bethätigte.

Aber besonders gut erging es ihm am folgenden Tage, auf der verabredeten Fahrt nach dem Schlößchen „Fantasie“, eben nicht. Herr und Frau Commerzienrath nahmen den Fond des bequemen, offenen Landauers ein, Max und Rosa den Rücksitz und unserem Referendar fiel, als dem Jüngsten in der Gesellschaft, der Platz neben dem Kutscher zu.

Da saß er nun, in stillem Ingrimm vor sich hinstarrend, während hinter seinem Rücken Rosa’s Stimme von Zeit zu Zeit mit einem „Lieber Max“ oder „Bester Vetter“ und dergleichen Süßigkeiten an sein Ohr schlug. Dann gerieten sie wieder auf musikalisches Gebiet.

„Finden Sie nicht die Gegend hier sehr hübsch, Herr Berger?“ erklang es auf einmal hinter Alfred.

Aha, jetzt ließ sie sich herab, auch ihm zur Abwechselung einen Brocken der Unterhaltung zuzuwerfen!

Er stellte sich, als habe er nichts gehört, und blieb unbeweglich sitzen.

„Herr Berger!“ flötete es wieder, dringlicher, und da er noch immer taub blieb, erhielt er einen ganz kleinen Schlag mit dem Sonnenschirm auf die Schulter, sodaß er nicht mehr umhin konnte, sich umzusehen.

Der Commerzienrath lag, resignirt und widerstandslos, mit geschlossenen Augen in seiner Ecke, im Begriff, ein Schläfchen zu machen. Die Gemüther der beiden göttlichen Streiter dagegen waren so erhitzt, daß sie unversehens, nachdem ihr eigentlicher Gegner den Kampfplatz geräumt hatte, sich in Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung einiger Motive verwickelten und tapfer weiter stritten.

Fräulein Rosa lehnte, vermutlich gelangweilt von diesem Thema, nach Alfred umgewandt auf ihrem Sitz und sah voll zu ihm auf, was ihr so gut stand, daß dieser vergaß, sich wieder abzuwenden.

Von den Bewertungen über Gegend, Wetter und dergleichen, die Beide, in ihren Stellungen verharrend, wechselten, hätte Alfred am Ende der Fahrt den Inhalt nicht angeben können. Er wußte und fühlte nur, wie er berauscht in die blauen Augensterne dicht vor ihm sah, in denen es oft so schelmisch und warm zugleich aufblitzte. Waren seine Blicke endlich der jungen Dame zu beredt geworden? Jedenfalls wählte sie ein gründlich wirkendes Abkühlungsmittel dafür. Vetter Max, der in der Hitze des Gefechts bereits den Hut abgenommen und neben sich gelegt hatte, vertheidigte soeben in steigender Erregtheit einen neuen Satz gegen die Angriffe seines weiblichen Feindes. Da legte sich ein zartes Händchen schmeichelnd auf sein blondes, lockiges Haupt.

„Ruhig, ruhig, Du Wilder! Hörst Du noch immer nicht auf zu streiten? Sieh doch, wie Du Mama aufgeregt hast. Machen wir dazu eine Spazierfahrt?“

„Ja, Du hast Recht, Röschen. Wir wollen es auch nun lieber ruhen lassen,“ seufzte der Angeredete tief auf, faßte dabei das Händchen, das ihn streichelte, und führte es galant an seine Lippen.

Alfred fuhr zurück, wie von einer Natter gebissen, und wandte den Kopf nicht wieder bis zum Ende der Fahrt.

„Auf Wiedersehen, lieber Herr Berger. Auf morgen!“ sagten Herr und Frau Jung herzlich, als man am Abend im Begriff stand, sich zu trennen.

„Ich werde mir allerdings morgen noch erlauben, Ihnen vor meiner Abreise Lebewohl zu sagen,“ entgegnete Alfred mit einem plötzlichen, heftigen Aufschwung zu männlicher Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.

„Wie, Sie wollen fort? Wie schade! Ich dachte, Sie würden uns noch nach Nürnberg begleiten. Sie müssen doch Fräulein Malten noch als Kundry sehen!“

Alfred blieb fest und versicherte, er habe schon allzu lange seine geplante Ferienreise verzögert.

Die Commerzienräthin wandte mit Nachdruck ein:

„Aber um welchen Preis auch, Herr Referendar! Nach der Schweiz können Sie noch jedes Jahr reisen, Bayreuth und ‚Parsifal‘ dagegen –“

„In der nächsten Aufführung bitte ich wieder um meinen alten Platz. Er gefiel mir doch besser, als der neben Max,“ sagte auf einmal Fräulein Rosa mit der harmlosesten Miene von der Welt, und als ob sie, in halblauter Unterhaltung mit dem Vetter begriffen, von dem übrigen Gespräch nichts gehört habe.

(Schluß folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_507.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)