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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Mission in Anspruch nehmen. Sie zählt dieselben zu ihren Hauptaufgaben. Sie hat vor Allem die "Herbergen zur Heimath" in’s Leben gerufen und dadurch den verderblichen Einflüssen der Pennenwirthschaft, von welcher unser erster Artikel ein Bild zu geben bestrebt war, mit Erfolg entgegengearbeitet. In diesen „Herbergen zur Heimath“ – schon der Name ist gut gewählt – sollte den armen Reisenden in eigens geschaffenen Gasthäusern ein menschenwürdiges Unterkommen geboten werden; statt der dumpfen Löcher gute Zimmer; statt Diele und Strohlager reinliche Betten. Speise und Getränke werden controllirt und vor Allem der Branntwein ganz von der Liste der Getränke gestrichen; das Kartenspiel wurde verpönt und durch eine strenge Hausordnung alle Ungebühr unterdrückt. Die Centralleitung der ersten sogenannten christlichen „Herbergen zur Heimath“ ging vom „Rauhen Hause“ in Horn bei Hamburg aus. Dahin muß jede einen bestimmten jährlichen Beitrag abliefern. Die Direktion des „Rauhen Hauses“ ernennt die Hausväter. Jeden Monat wird über die Vorkommnisse in Haus und Familie Bericht erstattet. Dem entsprechend hat das religiöse Element einen starken Antheil an der Hausordnung. Morgens und Abends werden regelmäßige Andachten abgehalten, von denen keiner der jeweiligen Insassen sich ausschließen darf. Anfangs nahm man sowohl im Publicum, wie in den Kreisen der armen Reisenden die Einrichtung nicht ohne Mißtrauen auf, und es waren erfahrungsgemäß nicht die Besten und am wenigsten die wahrhaft kirchlich Gesinnten, welche dort Einkehr nahmen. Die Einrichtung erwies sich aber in ihren Grundgedanken als so segensreich, daß dieselbe auch außerhalb des Bannes strenger Orthodoxie Verbreitung fand, und dürfte jetzt kaum mehr eine größere protestantische Stadt zu finden sein, in welcher nicht eine solche „Herberge zur Heimath“ oder ein dem ähnliches Institut errichtet wurde. Der Besuch derselben Seitens unserer armen Reisenden ist in stetem Zunehmen begriffen, sodaß in vielen Städten schon Erweiterungsbauten haben vorgenommen werden müssen. Vielfach haben sich die oben geschilderten Unterstützungsvereine mit denselben in Verbindung gesetzt, indem sie ihre Pfleglinge dahin verwiesen. –

Aus dem Allen geht hervor, daß, so groß auch die socialen Schäden sind, an denen unsere Zeit krankt, so groß doch auch ihre Humanität und Menschenliebe, ihr Geschick und ihre Macht sind, diese Schäden zu heilen. Daß dies nicht mit einem Male geschieht, daß immer erst die Erfahrung das rechte Mittel findet, das ist das Loos alles menschlichen Thuns. Statistische Nachweise haben ergeben, daß die Krankheit bereits ihren Höhepunkt erreicht hat, und daß die Zeit nicht mehr fern sein wird, wo der arme Reisende das Vagabondenthum abstreift und zu der alten Harmlosigkeit zurückkehrt, in welcher die Hand keine Versündigung an der Gesellschaft mehr begeht, wenn sie ihm einen Zehrpfennig zusteckt.




Die Theater in Paris.

Von Rudolf von Gottschall.

Paris ist eine echte Theaterstadt; nicht blos die Hochfluth des Fremdenbesuchs strömt in die Theater der Weltstadt. Freilich, über die eigentliche Pariser Bevölkerung breitet sich eine große europäische und amerikanische Schicht, die auf den Boulevards und in den Theatern sich am meisten bemerkbar macht und den Pulsschlag der Weltstadt zu einer fast krankhaften Regsamkeit steigert; doch auch die Theater an den äußeren Boulevards, in Batignolles und anderen Gemeinden, ja selbst in Belleville, dem Hauptsitze der Revolutionairs, Theater, in welche die Neugierde nur selten einmal einen Fremden lockt, beweisen, daß die Theaterlust in allen Kreisen der Pariser Bevölkerung heimisch ist.

Und haben die Pariser Poeten nicht das echte Theatergenie? Man muß es doch glauben, wenn man unsere deutschen Direktoren jahraus, jahrein nach der Seinestadt wallfahren sieht, um sich dort mit dem nöthigen Repertoirefutter zu verproviantiren. Glücklich, wer das goldene Vließ in der Tasche mit nach Hause bringt, wer seinem Gegner glücklich zuvorgekommen ist oder ihn durch ein größeres Gebot geschlagen hat; denn was deutsche Direktoren den deutschen Dichtern nie bewilligen, das bewilligen sie den französischen: eine oft sehr bedeutende Prämie für das Aufführungsrecht, ganz abgesehen von den hohen Tantiemen. Und muß man an dies überlegene Theatergenie der Pariser nicht glauben, wenn man die deutschen Kritiken liest, in denen jedes französische Stück als ein classisches Meisterwerk bewundert und mit einer Sorgfalt zergliedert wird, als handle es sich um eine Schöpfung, welche es verdiente, deutsches Nationaleigenthum zu werden? Und wie über die deutsche Bühne, so gehen die französischen Stücke auch über die englische, russische, italienische, spanische; Paris ist die Hauptstadt des europäischen Theaters.

Zwar von der großen Oper geht nicht mehr der Glanz aus wie zu den Zeiten Rossini’s, Auber’s und des deutsch-französischen Meyerbeer; neuerdings beginnt die Richard-Wagner-Oper ihr eine internationale Concurrenz zu machen. Dagegen haben die Operetten von Offenbach und Lecocq alle Bühnen Europas wie im Sturm erobert; von den kleinen Bouffes Parisiennes, diesem bescheidenen Nachbartheater der Italienischen Oper, wo zuerst Offenbach’s ironische Violinen kicherten und bacchantische Trommeln wirbelten, überkam ganz Europa die hunderttausend Teufel und Teufelchen des musikalisch-dramatischen Champagnerrausches, dieser prickelnden und trippelnden Vergnüglichkeit, die ihre Sache auf nichts gestellt hat. Und die Lorbeern Offenbach’s ließen die deutschen Kapellmeister nicht schlafen; mit mehr Glück als die deutschen Lustspieldichter ahmten sie die französischen Vorbilder nach und hatten gleiche Erfolge: mehr als hundert Aufführungen an den Operettenbühnen der Hauptstädte.

Und welchen Kreis beschreiben die Dramen Augier’s, Sardou’s, des jüngeren Dumas’, Pailleron’s? Zugstücke überall, Lieblingsstücke der deutschen gastirenden Künstlerinnen, beengen sie nicht nur das deutsche Repertoire; sie rufen schwache Nachahmungen hervor, welche die Kritik schonend behandelt oder glänzend verherrlicht, weil auch sie sich ganz im Fahrwasser der französischen Muse befindet. Die Autoren jenseits des Rheins haben das echte Theaterblut: es cirkulirt auch in der Hauptstadt. Freilich, die Theater allein reichen dafür nicht aus; sie braucht große Schau- und Spektakelstücke; sie braucht nicht blos einen Talma, sondern auch einen Napoleon.

Die neue Republik ist wenig theatralisch – und das ist ihre Achilleus-Ferse. Gambetta hatte wenigstens theatralische Gesten und Attitüden; er wußte die Toga in Falten zu legen: doch auch das letzte darstellende Talent der französischen Haupt- und Staatsactionen ist hinter den Coulissen verschwunden, um nie auf die Bühne wiederzukehren.

Ein Pariser Theater bietet im Allgemeinen einen etwas anderen Anblick dar, als ein deutsches: das Parquet, les stalles d’orchestre, gehört ausschließlich den Herren, die Damen sitzen in den Logen und Baignoires, in den großen Theatern, besonders in der Italienischen Oper, in der elegantesten Toilette. Das Pariser Feuilleton erwähnt, wenn es sich um erste Aufführungen handelt, die hervorragenden Damen, mögen sie nun der Aristokratie, der reichen Bourgeoisie, der Künstlerwelt oder der Halbwelt angehören, und versäumt es nicht, die Kritik mit dem Modebericht zu verknüpfen, indem es diese Toiletten schildert. Und dabei läßt sie ihre Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte, und eine schöne Courtisane erhält reicheres Lob, als eine minder schöne Prinzessin.

Die galanten Verehrer finden sich in den Logen ein; jeder bringt eine kleine Gabe, Confitüren, Apfelsinen, und manche der Damen macht den Eindruck, als säße sie an einer Verkaufsstelle in einer Wohlthätigkeitsausstellung. Doch ist diese Sitte in der Republik etwas eingeschlafen; man ist nicht mehr so galant, wie unter dem Kaiserthum; es gehört dies vielleicht zur republikanischen Tugend, von der man sonst in Paris, trotz Montesquieu, jetzt wenig genug bemerkt.

Im Zwischenact werden die Pariser Theater lebendig: da finden sich die Ausrufer ein, welche Erquickungen jeder Art, Theaterzettel und „le livre“ feilbieten. Das Buch: es ist dies eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_474.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2024)