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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

ausgetheilt werden; ob es dort Vereine gegen Hausbettelei giebt; welches die besten Herbergen sind, und was der Dinge mehr. Dann trennt sich der Haufen wieder mit Handschlag und einem „Lebe wohl, Kunde“ und seht im Einzelnen seine Wanderschaft fort. Dabei gehen aber immer zwei bis drei zusammen.

Die Wanderschaftsgenossen halten gute Cameradschaft; alles erfochtene Geld kommt in eine gemeinschaftliche Casse und wird dann redlich getheilt. Kommt der Trupp in ein Dorf, so wird zunächst möglichst unbefangen Erkundigung eingezogen, ob der „Deckel“ (Gensd’arm), auch „Klengners Karl“ genannt, da ist. Ist die Luft rein, so wird nunmehr der „Kaff mitgenommen“ (abgebettelt). Kein Bauer wird „liegen“ gelassen, nur die kleinen „Winden“ (Häuser) bleiben verschont. Vor Allem aber werden der Pfarrer („Gallach“) und Schulmeister („Schallach“) in Angriff genommen.

Das erste Augenmerk richtet sich auf das Einheimsen der Magenbedürfnisse, Brod („Hanf“), Käse („Leiche“), Kaffee. Ist der Vagabondenbeutel genügend damit versehen, so wird nun um Geld („Draht“) gefochten, um zum Frühstück den nöthigen Schnaps („Sauf“) zu haben. Ist das Dorf durchgefochten und hat eine nennenswerthe Beute geliefert, so wird nunmehr im Freien, hinter demselben, Halt gemacht und Frühstück gehalten. In den Städten wird die Taktik in so weit geändert, als da jeder allein auf die Fahrt geht, da das Doppeltgehen leicht Aufsehen erregen würde und das Terrain so auch leichter beherrscht wird. Es giebt Vaganten, welche nur in den Städten fechten und es nicht für der Mühe Werth erachten, die „Kaffs“ abzuklappen, während andere wieder ihren Wirkungskreis nur auf das platte Land beschränken.

Die beste Zeit für den armen Reisenden ist natürlich der Sommer. Da wird bei einigermaßen günstiger Witterung „Platte gerissen“, das heißt im Freien übernachtet, um das Nachtquartier zu sparen, und der „Rauscher“ (das Strohlager) ist in dieser Zeit in den Herbergen oft besser, als das beste Bett („Sänftling“). Abends giebt es „Rundlinge“ (Kartoffeln) nebst „Schwimmling“ (Häring), und an Brod („Hanf“) ist auch kein Mangel. Ist Heu- oder Kartoffelernte, so wird wohl auch eine Zeit lang gearbeitet, schon um Arbeitsscheine zu erhalten. Da giebt es auch gewisse allgemeine Arbeitsplätze. So treffen in dem bereits erwähnten baierischen Orte Spalt, dem Centralpunkte des Hopfenbaues, die „Kunden“ aus allen Gegenden zusammen und geben sich dort ein durch die reelle Arbeit des Hopfenabblättlens geschütztes Rendezvous. Ueberhaupt gilt nach unserm Gewährsmanne, einem Cidevant-Kunden, dessen auf eigene Erfahrungen gestützten Angaben[1] wir hier folgen, der deutsche Süden, besonders Baiern und Württemberg, als das Eldorado der wandernden Reisenden, weil da der Lebensunterhalt billiger ist und die Leute gutmüthiger sind, als im deutschen Norden. Der Altbaier und der Tiroler verleugnet auch dem Vagabonden gegenüber seinen alten Zug der Gastfreundschaft nicht. Nur der Mecklenburger Landmann und der Bauer der Marschen steht mit seiner guten Kost, seinen Schinken und Eiern, bei den Herren der Landstraße noch in gutem Rufe, wobei freilich die unwirthliche Lüneburger Haide mit in den Kauf genommen werden muß.

Der Winter ist die schwerste Zeit für unseren armen Reisenden. Hier kommt der Mangel in der bittersten Gestalt zu ihm. Da geht ihm mit der Kälte auch der Humor aus, und die Noth treibt ihn dann oft der sonst so geflissentlich gemiedenen Polizei freiwillig in die Arme, und das verhaßte Gefängniß, „Kittchen“ muß ihm Obdach und Nahrung geben.

Auch der Humor fehlt dem Vagabondenleben nicht. Er prägt sich schon in der Sprache aus, ebenso in den Spitznamen, welche die einzelnen hervorragenden Kunden in den Kreisen ihrer Genossen führen. Er tritt zu Tage in den schauspielerischen Gesten und der kunstvollen Mimik, mit welchen der Einzelne seinen Bittgang begleitet. Er ruft dem zur Arretur Gekommenen ermunternd zu:

„Hat Dich auch der Putz (der Polizist) am Kragen,
Kunde, darfst doch nicht verzagen.“

Freilich kommt dieser Humor manchmal arg in’s Gedränge. So in dem Falle, als ein alter Kunde bei einem Dorfpfarrer mit frommer Miene und kläglichen Ausdrücken um ein abgelegtes Hemd bat, und ihm auf einmal die Worte entgegentönten:

„Lieber Kunde, ‚der Kohl‘ (die Rede) war gut, aber der ‚Gallach‘ (Pfarrer) hippt nicht.“

Der Pfarrer war nämlich früher Anstaltsgeistlicher gewesen und hatte dabei Gelegenheit gehabt, die Gaunersprache zu lernen und sich mit den Kniffen der Kundschaft bekannt zu machen. Der verblüffte Staudenbettler nahm hierauf schleunigst Reißaus. Der Humor prägt sich auch in der Fopplust aus, welche sich nicht blos unter den eigenen Genossen, sondern gegenüber den feindlichen Mächten der Polizei geltend macht. So erging es jenem Mecklenburger Landhusar gar eigen. Am Raine der Landstraße trifft er zwei Kunden im bequemen dolce far niente. Da sie keinen genügenden Ausweis haben, arretirt er sie, ist aber mitleidig genug, den Einen, welcher ganz contract ist und lahme Füße hat, auf sein Pferd zu heben, auf dem er gebrochen und wie eine halbe Leiche herabhängt, indeß sein Gesell mit dem Husaren nebenher geht. Als die Karawane in dir Nähe eines Waldes kommt, reckt der vermeintliche Kranke sich plötzlich auf und beginnt das Pferd in Trab zu setzen. Der überraschte Gensd’arm läuft im Galopp hinterdrein und vergißt dabei ganz den fußgängerischen Collegen des Ausreißers. Dieser läuft querfeldein in den Wald, und der Reiter schwingt sich, nachdem er einen tüchtigen Vorsprung erhalten, vom Pferde, auch er eilt mit flinkem Fuße dem schützenden Walde zu. Dahin kann der gefoppte Landhusar den wieder brüderlich Vereinten mit seinem Rosse nicht folgen. Grollend und fluchend reitet er heim, indeß die beiden Durchbrenner lachend und jodelnd davonziehen.

Dahin gehört auch die Geschichte von dem bettelnden Schornsteinfeger, der den ihn beobachtenden Gensd’arm dadurch täuscht, daß er in zehn Läden einkehrt und immer für einen Pfennig Stecknadeln kauft. Derlei lustige Vagabondenstreiche à la Robert und Bertram bilden denn Abends in den Herbergen das Hauptthema der Unterhaltung.

Die Herbergen (Pennen) haben wesentlich mit dazu beigetragen, das Vagabondenthum wach zu erhalten. Sie sind, wie es in den angeführten Berichten heißt, die Sammel- und Berathungsorte der Stromer; sie bilden die Stamm- und Hauptquartiere, von wo die ganze Gegend abgeklopft wird. Abends kehrt man mit der erworbenen Beute heim; die Victualien werden in Spirituosen umgesetzt und die baaren Pfennige verjubelt. Die Herberge, heißt es an einer anderen Stelle, ist die Hochschule des moralischen Herunterkommens und die Durchgangspforte zum Gefängniß. Dort werden namentlich junge Leute von solider Anlage mit in das Compagniegeschäft gezogen und ihnen im Fechten genauer Unterricht gegeben. Dort liegen nicht selten, oft von den Herbergsvätern selbst geführt, vollständige Orts- und Namensverzeichnisse aus, worin die Namen und Wohnungen der Geber verzeichnet sind.

„Ich wünschte lebhaft,“ schreibt unser Gewährsmann, „Sie könnten sich einmal eine solche Fremdenstube in den Herbergen ansehen, die oft nichts weniger ist als eine Stube. Hier sitzen auf Bänken und Stühlen umher gleichzeitig wohl an die vierzig Mann; der Eine ohne Stiefeln (‚Trittchens‘), der Andere ohne Mütze, wieder ein Anderer mit zerrissenen Beinkleidern und die meisten mit defecten Röcken (‚Wolmuth‘). Viele haben gar kein Hemd an, nur Wenige eine Weste (‚Kreuzspanne‘), aber alle wenig oder gar kein Geld. Was jedoch Keinem fehlt, das ist die Schnapsflasche.“

Der eine Theil vertreibt sich die Zeit mit Kartenspiel, der andere mit frivolen Späßen und der Mittheilung von Bettlerfahrten. Viele sind schon wochenlang hier, so lange das Fechtgeld vorhält; nur ein Theil davon hat Nachts über ein Bett zu verfügen, die meisten sind auf „Bankarbeit“ angewiesen, das heißt sie schlafen in der Wirthsstube auf Tischen und Bänken. Der Herbergswirth, von den Gästen kurzweg „Boos“ genannt, herrscht in dem Reiche wie ein König. Er versteht nicht blos die Kunden


  1. Im Redactionsbureau der „Gartenlaube“ erschien vor einiger Zeit ein äußerlich sehr herabgekommener junger Mann, der dringend um Errettung aus der Noth bat, in die er unverschuldet gerathen sei. Er war Kaufmann, aus guter Familie, aber durch Stellenlosigkeit so weit gebracht, daß er, um das Leben zu fristen, zum Vagabondenthum hinabsank. Mit Kleidern und Geld so weit versehen, daß er in einem anständigen Gasthause Aufnahme finden konnte, schilderte er uns in einem Aufsatze seine Erlebnisse und Erfahrungen während seiner Stromerzeit, und diese Niederschrift ist es, die wir unserem verehrten Mitarbeiter, dem Verfasser obiger Artikel, zur Verfügung stellten. Das dem jungen Manne für seine schriftlichen Mittheilungen gewährte Honorar setzte ihn in den Stand, wieder ein neues, besseres Leben anzufangen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_462.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)