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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Es schien in der That, als ob das Unheil durch dies Opfer versöhnt worden sei. Schon während des Arbeitens an der Mauer hatte der Regen nachgelassen, und jetzt plötzlich sprang der Wind um, der seit drei Tagen und Nächten unaufhörlich die schweren Regenwolken herantrieb. Dort hinter den Bergen erschien der erste Lichtblick an dem düsteren Himmel.

Unter den Bauern begann jetzt ein Winken und Flüstern. Sie wollten offenbar ihrem Gutsherrn danken und schämten sich, dem Manne gegenüber, den sie so lange als ihren ärgsten Feind behandelt hatten. Der Gemeindevorsteher, welcher noch am besten mit dem Worte Bescheid wußte, wurde von allen Seiten vorwärts geschoben und mit freundschaftlichen Stößen zum Reden ermuntert.

Ehe es aber noch dazu kam, schritt Gregor Vilmut vom Ufer her langsam auf den Freiherrn zu, es schien, als wolle er sprechen.

Da kam vom Dorfe her ein alter Mann, keuchend und athemlos. Die grauen vom Regen durchnäßten Haare hingen ihm wirr über das Gesicht, das den Ausdruck der vollsten Verzweiflung trug. Es war Eckfried, der in den letzten Tagen krank gelegen hatte. Als die Nachbarn ihm zuriefen, er solle fliehen, das Wasser dringe in das Dorf, hatte er sich mühsam aufgerafft und in das Freie geschleppt, wo die Frauen und Kinder bereits nach dem Schloßberg flüchteten.

Da auf einmal hieß es, der Felsenecker sei dort an der bedrohten Stelle und habe versprochen, das Dorf zu retten. Wie und auf welche Weise, das wußte Niemand, aber man sah und hörte es, wie an der Mauer gearbeitet wurde, und wie sie schließlich in die Luft flog.

Gleich darauf erschien Feldberg und rief den Flüchtenden zu, sie sollten umkehren, der Freiherr habe das Wasser in seine Gärten abgelenkt, es stürze mit voller Gewalt der Niederung zu und das Dorf sei gesichert.

Da hatte der alte Mann einen markerschütternden Schrei ausgestoßen, und ohne Jemand Rede zu stehen, ohne sich halten zu lassen, war er davon gekeucht. Bei jedem Schritte schien er zusammensinken zu wollen, aber die Todesangst trieb ihn vorwärts, bis er die vor dem Dorfe versammelte Menge erreichte. Erst hier verließ ihn die Kraft, und gerade vor dem Pfarrer brach er zusammen.

„Mein Toni!“ schrie er. „Die Fischer am Grundsee! Sie werden ertrinken – und der Toni mit!“

Vilmut zuckte zusammen, und auch Werdenfels und die Andern standen wie vom Blitze getroffen.

In der Aufregung hatte Niemand daran gedacht, daß dort an dem einsamen Grundsee das kleine Fischerhaus lag, das einzige in der ganzen Niederung; es mußte auf’s Aeußerste von der Fluth bedroht sein.

„Mein Bub’, mein armer Bub’!“ wiederholte Eckfried, dessen Gedanken sich nur um diesen einen Punkt drehten. „Sie haben ihn mir genommen, Hochwürden, Sie haben ihn hingebracht, und jetzt muß er umkommen, elendiglich verderben in dem Wildwasser! Geben Sie mir meinen Toni wieder!“

Auf dem Gesichte Vilmut’s lag eine geisterhafte Blässe, und er preßte die Hand gegen die Stirn, auf welcher kalte Schweißtropfen standen. Stumm, keines Wortes mächtig, blickte er auf den alten Mann nieder, der das Leben seines Enkels von ihm forderte – die furchtbaren Lehren dieses Tages wollten nicht enden.

„Nicht so verzweifelt, Eckfried!“ sagte der Freiherr, welcher sich zuerst wieder faßte. „Es wird ja Hülfe möglich sein, wenn sie überhaupt nothwendig ist. Der Fischer hat ja im schlimmsten Falle sein Boot und wird sich mit den Seinen darin gerettet haben.“

„Wenn es noch Zeit gewesen ist,“ warf Paul ein. „Das Wasser ging wie ein Sturmwind hinab in die Tiefe und die Leute ahnten nichts von der Gefahr.“

Jetzt richtete sich auch Gregor auf, die Betäubung des Schreckens wich, und seine alte Energie kehrte zurück. Seine Stimme war völlig klanglos, aber fest, als er sich an den Freiherrn wandte:

„Wir müssen uns Gewißheit verschaffen! Vom Schloßberg aus übersieht man die ganze Niederung, und das Boot steuert jedenfalls hierher oder nach der Buchdorfer Höhe.“

„Ganz recht!“ stimmte Raimund bei. „Es blieb ja keine Wahl, wenn das Dorf gerettet werden sollte, die Mauer mußte fallen, aber das Opfer von drei Menschenleben wäre doch ein furchtbarer Preis! Bleibt zurück, Eckfried, und erholt Euch. Es wird alles nur Mögliche geschehen!“

Er eilte fort mit Vilmut und Paul, der sich ihnen anschloß, auch der größte Theil der Dorfbewohner folgte.

Anna war bei Eckfried zurückgeblieben und versuchte ihn zu beruhigen, aber vergebens. Der Alte ließ sich nicht zurückhalten, er wollte selbst sehen und hören, was geschah, man mußte ihm den Willen thun. Von mitleidigen Händen geführt und gestützt, gelangte auch er endlich auf den Schloßberg.

Der Anblick, der sich von dort aus bot, war nun freilich trostlos. Die ganze Niederung stand bereits unter Wasser, das mit jeder Minute stieg, denn durch den Park stürzte noch immer die Fluth, wenn auch nicht mehr mit der alten Wildheit, und sie nahm ihren Weg gerade nach dem kleinen Grundsee.

Man unterschied trotz der Entfernung und des Nebels das Fischerhaus am Strande, aber es war bereits ringsum von Wasser umgeben, das längst durch die Thür und die niedrigen Fenster eingedrungen sein mußte. Ueber das Schicksal der Bewohner ließ sich augenblicklich noch nichts feststellen, man bemerkte nirgends ein Boot auf der öden Fläche.

Nur etwa ein Drittel der Dorfbewohner war zurückgeblieben, um bei einer etwaigen Rückkehr der Gefahr bereit zu sein, der größte Theil befand sich hier oben, ebenso wie die gesammte Dienerschaft des Freiherrn, und Alles sprach und lief in vollster Aufregung durch einander. Paul stand neben den beiden Damen, denn auch Lily war jetzt herbeigeeilt und bemühte sich, ihnen die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit klar zu machen, daß die Fischer sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätten. Lily glaubte ihm auch unbedingt, Anna dagegen erwiderte keine Silbe auf seine Trostgründe. Ihr Auge hing nur an Raimund, der mit Vilmut auf dem äußersten Vorsprunge stand.

„Die Fluth muß sie überrascht haben,“ sagte Werdenfels, indem er angestrengt durch das Fernglas blickte, das man aus dem Schlosse herbeigeschafft hatte. „Sie haben offenbar nicht mehr Zeit gehabt, das Boot loszumachen, und scheinen auf das Dach des Hauses geflüchtet zu sein. Ich sehe dort etwas, aber deutlich läßt es sich jetzt nicht erkennen bei der trüben, nebeligen Luft.“

Er reichte das Glas dem Pfarrer, der es gleichfalls nach dem See richtete. Die beiden Männer, welche bis zu dieser Stunde Feinde gewesen waren, sie standen jetzt neben einander und tauschten ihre Beobachtungen aus, als ob das selbstverständlich wäre.

„Die Leute sind auf dem Dache,“ sagte Vilmut nach einer Pause mit Bestimmtheit. „Sie geben Nothzeichen – und da treibt auch das Boot hin – es wird aber nicht zu erreichen sein.“

Er wies auf einen dunklen Gegenstand in der Ferne, der, mit bloßem Auge gesehen, einem treibenden Baumstamme glich. Es war in der That das kleine Fischerboot, das die Wellen gleich in den ersten Minuten losgerissen hatten, aber die Strömung hatte es bereits weit weg geführt, nach der entgegengesetzten Richtung, und doch war es das einzige Werkzeug zur Rettung. Wo sollte man sonst ein Fahrzeug hernehmen in dem Gebirgsdorfe, dessen wilder Felsenstrom auch nicht den leichtesten Nachen trug!

„Da[WS 1] bleibt nur Eins!“ sagte Rainer. „Wir zimmern ein Floß; wenn Alle Hand anlegen, kann es bald fertig sein, und mit Tagesanbruch steuern wir hinüber. So lange müssen sie aushalten.“

„So lange halten sie nicht aus,“ erklärte Vilmut. „Ich kenne das Haus, in wenigen Stunden hat die Fluth die morschen Wände eingedrückt, und noch vor Einbruch der Nacht stürzt es zusammen. Jetzt, auf der Stelle muß die Hülfe gebracht werden, wenn sie nicht zu spät kommen soll. Wir müssen hinüber, gleichviel auf welche Weise!“

„Halt!“ rief Werdenfels, von einem rettenden Gedanken durchblitzt. „Auf dem Schloßteiche liegt ja stets ein kleines Boot, das im Winter losgemacht und vor der Witterung geborgen wird. Feldberg, wo ist das Boot?“

„Ich weiß nicht – vermuthlich irgendwo in der Meierei,“ sagte der Verwalter ungewiß.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Dn
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_450.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2024)