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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Was wollt Ihr hier im Dorfe? Dort am Ufer ist die Gefahr, dort ist unser Platz!“

„Das Ufer bricht!“ tönte es von allen Seiten. „Das Wasser kommt! Es steigt immer höher!“

„So muß ihm ein Ausweg geschafft werden! Haltet an mit der unsinnigen Flucht und folgt mir! Noch giebt es ein Mittel zur Rettung, ich werde es Euch zeigen!“

Rettung! Das Wort fuhr wie ein elektrischer Schlag durch die Menge. Hatte dieser Werdenfels denn wirklich übernatürliche Macht, daß er Rettung verhieß, wo Alles schon verloren war? Gleichviel, er war da und wollte helfen, also mußte er es auch wohl können.

Keinem Anderen wäre es gelungen, die vor Angst halb wahnsinnigen Menschen zum Stehen und zur Besonnenheit zu bringen, aber der Aberglaube, der sich oft drohend gegen den Freiherrn gerichtet hatte, wurde jetzt sein mächtigster Bundesgenosse, ihm glaubte man, und folglich gehorchte man auch.

Es blieb kein Einziger zurück, als er jetzt mit Anna nach dem Ufer schritt.

Paul hatte sich sofort seinem Onkel angeschlossen, ebenso der Verwalter Feldberg, der sich gleichfalls hier befand. Sie gelangten zu der Stelle, wo noch vor wenigen Minuten so fieberhaft und so vergeblich gearbeitet worden war, und plötzlich standen sich Werdenfels und Gregor Vilmut gegenüber.

Einige Secunden lang blickten sich die Beiden schweigend an. Der harte Vorwurf auf Raimund’s Lippen erstarb, als er seinem Gegner in das Auge sah, denn er las die Todesqual darin. Dieser Tag hatte ihn gerächt an seinem unerbittlichen Richter, und ohne ein Wort der Anklage wandte er sich ab und trat an das Ufer.

Auch Anna hatte ihren Vetter nicht wieder gesehen seit jener Stunde, wo sie nach Werdenfels eilte. Sie stand jetzt an seiner Seite, und sich zu ihm neigend, sagte sie leise:

„Fasse Muth, Gregor! Raimund wird helfen!“

Vilmut sah sie nicht an, sein starrer Blick war einzig auf die wachsende Fluth gerichtet, während er dumpf, mit halb gebrochener Stimme erwiderte:

„Kann er ein Wunder thun?“

„Es giebt Wunder, die auch Menschen vollbringen können, wenn ihnen eine Erleuchtung von oben kommt!“ sagte die junge Frau ernst. „Sieh die Männer dort – sie glauben alle an ihn!“

Vilmut ließ einen langen düsteren Blick über die Menge hingleiten, die den Freiherrn umdrängte. Aller Augen hingen an seinem Antlitz, an seinen Lippen, Alle harrten in angstvoller Erwartung, was er beginnen werde. Der Gebannte, Geächtete, er war jetzt der einzige Hort, auf den man noch vertraute, und der einst so allmächtige Priester stand allein, verlassen, gemieden. Das Loos, das er so lange seinem Feinde bereitet hatte, fiel jetzt auf ihn.

Raimund hatte jahrelang in der Einsamkeit des Hochgebirges gelebt, er kannte dies Steigen der Wildwasser im Frühlinge und wußte ihren Lauf zu deuten. Seine Stirn ward immer finsterer, als er die Gefahr abschätzte und die Möglichkeiten erwog, denn seine Erfahrung sagte ihm, daß der Strom, der schon weit über seine Ufer fluthete, in höchstens einer halben Stunde das Dorf erreichen mußte. Noch einen Blick warf er hinüber nach den hochragenden Baumwipfeln seiner Gärten, dann richtete er sich entschlossen auf und deutete nach dem Parke hinüber.

„Reißt die Mauern dort ein!“

Niemand antwortete und Niemand regte sich, um zu gehorchen. Die Leute verstanden im ersten Augenblicke gar nicht den Befehl, nur Vilmut allein begriff, und in seinen Zügen stritten Unglaube und aufflammende Hoffnung, als er rief:

„Herr von Werdenfels, was wollen Sie thun?“

„Dem Wasser einen Weg schaffen, damit es vom Dorfe abgelenkt wird. Es giebt kein anderes Mittel.“

„Raimund, um Gotteswillen, bedenke die Folgen!“ rief Paul, der neben ihm stand. „Es handelt sich nicht um die Gärten allein. Deine sämmtlichen Besitzungen, die dort in der Thalniederung liegen –“

„Sind verloren – ich weiß es! Reißt die Mauern ein!“

Der Befehl wurde mit voller Energie wiederholt, und jetzt endlich fingen auch die Bauern an zu begreifen, welches Opfer ihnen gebracht wurde, jetzt sahen auch sie den Weg zur Rettung. In einem Nu waren die noch am Boden liegenden Werkzeuge aufgerafft und Alle wollten sich gegen die Mauern stürzen, als die Stimme des Freiherrn sie zurückhielt:

„Halt! Erst ordnet Euch, damit Ihr einander nicht hindert. Rainer, Ihr führt die Hälfte der Leute nach dem Park und greift von innen den Wall an, gerade in der Mitte, dort, wo die hohe Tanne aufragt; Ihr Anderen beginnt hier draußen die Arbeit, ich werde sie selbst leiten! Feldberg, benachrichtigen Sie den Gärtner! Er soll mit seiner Familie sofort nach dem Schlosse flüchten, sein Haus ist das einzige Gebäude dort, das nicht auf der Höhe liegt. Paul, Du eilst nach dem Schlosse und läßt aus unseren Jagdvorräthen Pulver herbeischaffen! Ich fürchte, die Werkzeuge werden nicht genügen, wir werden sprengen müssen. – Und nun an die Arbeit, denn es thut Eile Noth!“

Es bedurfte der Ermuthigung nicht; die kurze, klare Art des Befehlens, die nichts übersah und nichts vergaß, imponirte den Leuten ungemein, sie gehorchten augenblicklich. Selbst der wilde Rainer fügte sich unbedingt der Autorität des Mannes, den er beinahe gemordet hatte. Er verschwand schleunigst mit seiner Schaar hinter den Parkthoren, und während Paul und Feldberg nach dem Schlosse eilten, ordnete Werdenfels die Zurückgebliebenen.

Es war nicht möglich, den Mauern von außen beizukommen, denn das Wasser warf sich bereits dagegen, man mußte sie von den beiden Endpunkten her ersteigen, und nun begann eine wahre Ameisenarbeit an den hohen und breiten Wällen. Mit Hacken, Spaten, Schaufeln, mit allen Werkzeugen, die nur zur Hand waren, wurden sie angegriffen, Schlag auf Schlag dröhnte gegen die Steinwand und hunderte von kräftigen Armen arbeiteten an ihrer Zerstörung.

Aber die Mauern, die geschaffen waren, dem entfesselten Bergstrom Widerstand zu leisten, ergaben sich nicht so leicht den Menschenarmen. Die mächtigen Quadern, die seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Erdreich und den Baumwurzeln verwachsen waren, schienen eisenfest zusammengekittet, sie waren nicht zum Weichen zu bringen. Jeder Stein mußte einzeln losgerissen werden, aber das ging so langsam, so unendlich langsam, und das Wasser stieg reißend schnell.

(Fortsetzung folgt.)




Das deutsche Reichswaisenhaus in Lahr.

Das Städtchen Lahr in Baden ist wohl allen Lesern der „Gartenlaube“ – wenigstens dem Namen nach – bekannt, nicht sowohl wegen seiner geographischen Bedeutung und großen Einwohnerzahl, als vielmehr durch die hervorragenden Erzeugnisse seiner Industrie und seines Gewerbfleißes. Wer kennt z. B. nicht sein berühmtes Kind, den Kalender des „Lahrer Hinkenden Boten“, der in Hunderttausenden von Exemplaren alljährlich hinauswandert in alle Welt, soweit die deutsche Zunge klingt, und dem auch der Gedanke des deutschen Reichswaisenhauses seine Entstehung und seine Ausführung verdankt?

Daß der Wahlspruch des „Hinkenden“:

„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel!“

und seine Standreden für das Werk der Barmherzigkeit so überraschende Erfolge haben und es so bald dem Ziele nahe bringen würden, das konnte freilich Niemand ahnen, wenn auch der biedere Kalendermann in seinem Streben der Menschenliebe früher schon manch Gutes und Schönes vollbracht hatte.

Wir erinnern hier nur an seine Erzählung in dem Kalender von 1869: „Wie der liebe Gott heutzutage Wunder macht“, durch die er in seiner unvergleichlich volksthümlichen warmen Sprache die Herzen seiner Leser so ergriff, daß Tausende von Gulden zusammenflossen und der Noth einer armen zahlreichen Bahnwärterfamilie, die ihren braven Ernährer durch einen erschütternden Unglücksfall verloren hatte, ein Ende gemacht werden konnte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_432.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2024)