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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

sich hier das endlose Land auf Tausende und Tausende von Quadratmeilen in der nämlichen Flachheit, in der nämlichen Baum- und Strauchlosigkeit weiter hin, wie wir es vorher in dem tiefer liegenden Dacotah gesehen haben.

Und dennoch muß es als eine andere Welt bezeichnet werden! Warum? Ein einziges Wort sagt es – das Wort: Winterlosigkeit. Montana ist bereits ein Theil jenes Großen Westens, der nicht nur durch quer darübergelegte Felsengebirgsausläufer von Britisch Amerika her geschützt, sondern auch von den Luftströmungen erwärmt wird, welche in ihren letzten Wellen durch die Pässe und Einsenkungen der Felsengebirgshauptkette vom Stillen Ocean ihren Weg bis hierher finden. In Folge dessen weist Montana kimatische und meteorologische Verhältnisse auf, welche zu denen des nächstbenachbarten östlichen Gebietes schon in dem unvermitteltsten Gegensatz stehen.

Nirgends aber tritt dieser Gegensatz so vollkommen und so jäh zu Tage, wie gerade hier, zwischen den beiden größten Territorien des Neuen Nordwestens, welche, noch gestern das ausschließliche Eigenthum herumschweifender Indianerhorden, heute durch einen ununterbrochenen eisernen Heerweg in den Bereich des Weltverkehrs gezogen, auch schon im vollsten Begriffe stehen, für diesen letzteren von einer gleich großen und naheverwandten und dennoch in ihren ersten Vorbedingungen ganz und gar verschiedenen Wichtigkeit zu werden: Dacotah als ein unvergleichliches Getreideland, Montana als ein Viehzuchtland ersten Ranges! Gehört das erstere noch zu jenen nördlichen Gebieten der Union, welche, ganz offen und ungeschützt gegen die arktischen Regionen daliegend, von den strengsten Wintern, den heftigsten Schneefällen und vor allen Dingen von jenen mörderischen „Blizzards“ heimgesucht werden, die zwar kein Hinderniß für den üppigsten und erfolgreichsten Sommeranbau bilden, dafür aber vom December bis zum Februar wahrhaft polare Zustände schaffen: so liegt das letztere bereits westlich des 103. und 104. Längengrades, mit denen im Großen Westen jene Region der regenlosen Sommer und der milden Winter beginnt, die dem Ackerbaue allerdings nur unter Zuhülfenahme künstlicher Bewässerung wahrhaft lohnende Aussichten eröffnen, dafür aber im Verein mit den geradezu wunderbaren Weidegründen dieser „Plains“ der Massenviehzucht Alles entgegen bringen, was dieselbe nur erheischt. Früher mit seinem im getrockneten Zustande die ganze Nährkraft frischen Wachsthums bewahrenden Graswuchs die nordwestliche Hauptweide des amerikanischen Büffels bildend, ist Montana jetzt, nach so gut wie vollendeter Ausrottung dieses gehörnten Ureinwohners der Prairie, auf dem besten Wege, sich als Productionsland gezüchteter Rinder zu einem Stapelgebiete zu entwickeln, wie es die Vereinigten Staaten in dieser Beziehung bisher nur in Wyoming und Texas besaßen.

Wie weit aber die großen „Ranchmen“[1] des Territoriums bereits heute auf diesem Wege vorgeschritten sind, dürften am besten die Berichte über das Viehverfrachtungsgeschäft der Nordpacificbahn ausweisen. Obgleich dieselbe nur erst vor drei Jahren die Grenze von Montana überschritten, hatte sie doch im vorigen Sommer bereits täglich Hunderte und Hunderte von „Hörnern“ auf eigens dazu eingerichteten Zügen nach den Schlachthöfen der östlichen Großstädte zu befördern. Niemand aber wird diesen dem fernsten Westen entstammenden Heerden bei ihrer Ankunft in Chicago, New-York oder Boston angesehen haben, daß sie nie einen Stall und eine Stallfütterung gekannt, sondern, selbst die Winter im Freien verbringend, auf ihren Hochtriften bisher nur ein Wildlingsleben geführt haben, welches höchstens von der Peitsche des berittenen Cow Boy[2] und dem Brenneisen mit dem Namenszuge ihres Eigenthümers in empfindlicherer Weise beeinflußt worden ist.

Es ist das unter Zuhülfenahme nur geringfügiger künstlicher Bewässerung äußerst fruchtbare und sich dem entsprechend reißend schnell besiedelnde Thal des Yellowstoneflusses, welchem die Nordpacificbahn in einer Länge von etwa 250 Meilen folgt, bis sie Bozeman im Gallatinthale, 1096 Meilen westlich vom Mississippi, den derzeitigen Endpunkt ihrer östlichen Strecke erreicht hat. Bozeman liegt bereits in den Gebirgen selbst – inmitten jenes gewaltigen, langersehnten Decorationswechsels, von welchem oben gesagt wurde, daß er in dem magischen Worte „Rocky Mountains“ verkörpert sei.

Ein magisches Wort, fürwahr, und nur wenige Namen in der gesammten Gebirgsnomenclatur der Erde kingen stolzer, regen die Phantasie lebhafter an. Und doch, ist es nicht eine Art von Enttäuschung, welche dem ersten Blick, mit dem man die hinter jenem Namenzauber liegende Wirklichkeit umspannt, zum Entgelt wird? Dem ersten – dem allerersten Blick – ja! Aber auch nur diesem. Sowohl die Hauptkette des mächtigen, von den Amerikanern so gern als das Rückgrat ihres Continents bezeichneten Gebirges, wie der östlich vorgelagerte Zug der Crazy Mountains – wörtlich der „Verrückten“ oder „Tollen Berge“ – bauen sich schon hier in der ganzen, den Felsengebirgen eigenthümlichen nackten und ungefügigen Massenhaftigkeit bis zur Höhe von acht-, zehn- und noch mehr tausend Fuß auf. Trotzdem, und obwohl es selbst im Hochsommer in seinen höchsten, nordwärts liegenden Gipfeleinsenkungen nicht an Schnee fehlt, bleibt das Gebirgsbild, als Großes und Ganzes, dem ersten Blick doch jenen etwa die Wildalpen der Schweiz charakterisirenden Hoch- und Höchstgebirgseindruck schuldig, den man begreiflicher Weise gerade hier erwartet. Es erklärt sich das leicht genug. Da sich die Rocky Mountains, wo immer man ihnen, vom südlichen Neu-Mexico bis zum nördlichen Montana, vom Osten her naht, überall auf einer bereits zu vier-, fünf- und sechstausend Fuß unmerklich angestiegenen Hochebene erheben, so ist man zuerst naturgemäß außer Stande, die acht-, zehn- und mehr tausend Fuß über dem Meeresspiegel, welche ihnen die wissenschaftliche Vermessung giebt, in ihrer wirklichen Wucht zu erkennen. Aber es währt nicht lange, und aus den Höhen dieser gigantischen Erd- und Steinaufjochungen selbst, die so gelassen in den Himmel über sich hineinragen, als wäre er ihre eigentliche Heimath, steigt die Erkenntniß des Wahren zu dem kleinen Menschenkinde da unten hernieder. Ehe sich’s selbst noch Rechenschaft darüber geben kann, beginnt es das wirkliche Wesen dieser breitgelagerten und breitgegliederten Kolosse zu fühlen. Und vom Fühlen zum Sehen, zum bewunderungsvollen, erschütterten Emporsehen ist dann nur noch ein Schritt.

Wie mächtig aber wachsen diese Berg- und Felsfluchten erst um den Westfahrer empor, wenn ihn Berggefährt oder Saumthier, die hier einstweilen noch die einzige Verbindung herstellen, auf immer wilderen Kamm- und Klippenwegen von Bozeman südwärts tragen! Dorthin tragen, wo die schneegekrönte Hauptkette der Felsengebirge sich in ein Paar weitgeschwungene Hochgebirgszüge theilt, oder richtiger gesagt, ein Paar von schützenden Alpenarmen ausbreitet, als gelte es darin einen allerkostbarsten Schatz oder ein allerkostbarstes Geheimniß dieser ohnehin zu den Wolken entrückten Welt vor der profanen Erde da unten noch ganz besonders zu bergen! Dorthin, wo noch, mit seinen Seespiegeln und Thalsohlen in mehr als Schneekoppen- und Rigihöhe liegend, sich jenes Quellland des Yellowstone ausbreitet, das in seiner ungeheuerlichen Fremdartigkeit den Namen eines Wunderlandes des ganzen Erdballs, in seiner gleichzeitigen traumhaften Lieblichkeit aber nicht minder gebieterisch den eines Nationalparks, eines natürlichen Armida-Gartens des größten Volks der Neuen Welt erzwang!

Es nimmt zwei Tage in Anspruch,[3] bis man von dem neuen Heerweg der Nord-Pacificbahn aus die mit der Scheidelinie von Montana und Wyoming zusammenfallende Nordgrenze dieses Wunderlandes erreicht. Vom Congreß der Vereinigten Staaten unter dem Namen „Nationalpark des Yellowstone“ für alle Zeiten als Volksdomäne abgegrenzt und reservirt, nimmt es genau die Nordwestecke des letztgenannten dieser beiden Territorien ein. In der Umgrenzung eines 65 Meilen langen und 55 Meilen breiten Rechtecks bedeckt es hier einen Flächenraum von 3575 englischen Quadratmeilen. Und in dieser Größe, welche die des ganzen Unionsstaates Delaware oder jene des deutschen Großherzogthums Oldenburg um mehr als die Hälfte übertrifft, ist es mit seinen erlesenen Hochgebirgs-, Wasser-, Wiesen- und Waldscenerien – denn damit ihm auch nicht eine Schönheit fehle, tritt plötzlich der im Felsengebirgswesten längst zum völligen Fremdling


  1. „Ranchmen“ Besitzer eines „Ranch“, eines Grundbesitzes von Weideländereien mit Heerdenzucht.
  2. „Cow Boys“, die berittenen Hüter der großen Viehheerden; wörtlich „Kuhjunge“.
  3. In kurzer Zeit wird auch hier die Nord-Pacificbahn eine 75 Meilen lange Schienenverbindung hergestellt haben, die ebenso sehr um der Kühnheit ihres Baues halber, wie um des Zieles willen, welches ihr gesteckt ist, eine Merkwürdigkeit sein wird.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_378.jpg&oldid=- (Version vom 12.6.2023)