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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Er focht energisch mit einem der großen Actenhefte in der Luft herum, als wolle er damit die erwähnte Heldenthat ausführen. Der Kutscher entsetzte sich insgeheim vor dieser gottlosen Herausforderung der allgemein gefürchteten Macht des Gebirges, dem bestimmten Befehle seines Herrn gegenüber aber mußte er sich fügen; er schwieg also und trollte ab. Der Justizrath brummte noch etwas von verwünschtem Aberglauben, der die Leute ganz dumm mache, und fuhr dann fort, seine Acten zusammenzupacken, mit einer Sorgfalt, als ob es sich um den Transport eines kostbaren Schatzes handelte.

Zur festgesetzten Stunde fuhr der Schlitten von Felseneck ab. Das Wetter hatte sich in der That vollständig geändert in den wenigen Stunden, die Sonne verschwand gänzlich hinter dem weißgrauen Gewölke, das von allen Seiten heranzog, die Berge verschleierten sich immer mehr, nur die Geisterspitze war noch deutlich sichtbar. Das Pferd trabte munter dahin auf der glatten Bahn, desto grämlicher sah der Kutscher aus, der mit offenbarer Besorgniß den Himmel musterte. Der Justizrath dagegen saß, in seinen Pelz gehüllt, bequem im Schlitten, warf von Zeit zu Zeit einen zärtlichen Blick auf das umfangreiche Actenbündel, das wohlbehütet neben ihm auf dem Sitze lag, und fand, daß das Wetter wunderschön sei.

Die Fahrt hatte ungefähr eine Stunde gedauert und man war mitten auf der öden Bergstraße, wo sich weit und breit keine menschliche Wohnung zeigte, als es zu schneien begann, anfangs noch leicht und unbedeutend, aber der Kutscher drehte sich um und sagte bedeutungsvoll:

„Da haben wir den Schnee!“

Der Justizrath wollte das nicht zugeben, sondern erklärte, der Wind treibe den Schnee von den Bäumen herüber, bald aber fielen die Flocken dichter und häufiger, und es entwickelte sich ein so regelrechtes Schneegestöber, daß Freising seine hartnäckige Behauptung, daß das Wetter schön sei, nicht länger aufrecht erhalten konnte.

„Fahrt schneller, Anselm,“ sagte er etwas kleinlaut. „Das Wetter scheint doch unzuverlässig zu sein, und wenn wir in den Schnee geraten –“

„Dann holt uns die Eisjungfrau!“ ergänzte Anselm wehmüthig. „’s ist Sanct Rupertustag.“

„Jetzt wird mir die Sache zu arg!“ rief der Justizrath wüthend. „Ich wollte, ich könnte Euch sammt Eurem Rupertustage auf die Geisterspitze hinaufschicken. Das ist der rechte Ort für Dummköpfe, in denen die Eisjungfrau spukt. Vernünftigen Menschen wie mir kommt sie sicher nicht in den Weg, ich wollte es ihr auch nicht rathen, meine Bekanntschaft zu machen.“

Anselm erschrak dermaßen über diese Lästerung, daß er sich bekreuzigte und dabei auf einen Moment die Zügel aus der Hand ließ. In derselben Minute fegte der Wind eine stäubende Schneelast von der nächsten Tanne, das Pferd erschrak, scheute und machte einen heftigen Sprung seitwärts. Der Schlitten prallte mit voller Gewalt gegen einen Felsstein, es gab ein lautes Krachen, dann jagte das Pferd, vollends scheu gemacht, mit der zerbrochenen Deichsel davon, und der Schlitten, der Justizrath und der Kutscher lagen malerisch gruppirt im Schnee.

Anselm war der Erste, der sich wieder aufraffte.

„Das kommt davon!“ brummte er. „Das kommt von den gottlosen Spöttereien. Herr Justizrath, leben Sie noch?“

Der Justizrath lebte allerdings, und sein erster Gedanke nach der Betäubung des Sturzes galt seinem Schatze.

„Meine Acten!“ rief er. „Wo sind meine Arcen geblieben?“

„Die werden wohl da unten liegen,“ meinte Anselm, auf den Abhang der Bergstraße zeigend. „Gott sei Dank, daß wir wenigstens oben geblieben sind!“

Der Schlitten hatte sich in der That vermittelst eines höchst wunderbaren Umschwunges seiner sämmtlichen Insassen entledigt, und zwar dicht am Ahhange. Die Menschen waren glücklicher Weise auf der Chaussee liegen geblieben, das schwere Actenbündel aber war jedenfalls in die Tiefe gerollt, denn es zeigte sich keine Spur davon.

Der Justizrath versuchte jetzt auch, sich aufzurichten, was ihm nur mit Mühe gelang. Er war zwar nicht ernstlich verletzt, hatte sich aber den rechten Fuß derartig verstaucht, daß er nicht einmal auftreten, viel weniger gehen konnte, und das war doppelt schlimm in der jetzigen Situation.

Der Kutscher hatte zwar das Pferd zurückgeholt, das noch eine Strecke weit gelaufen und dann ruhig stehen geblieben war, aber der Schlitten war bei dem heftigen Anprall so arg zugerichtet worden, daß seine fernere Benutzung sich als unmöglich erwies, er lag fast in Trümmern.

Anselm jammerte laut darüber, fand aber bei seinem Herrn gar kein Mitgefühl.

„Was kümmert mich der Schlitten!“ rief dieser verzweiflungsvoll. „Ich will meine Acten wieder haben! Sie können nicht tief gefallen sein, sie müssen da unten zwischen den Tannen liegen. Steigt hinunter, Anselm, und holt sie mir herauf.“

„Um keinen Preis!“ erklärte der Kutscher. „Nach diesem Unglück noch an der glatten Bergwand niederklettern, das würde mir den Hals kosten am Rupertustage. Bieten Sie mir, was Sie wollen, Herr Justizrath, aber das thu’ ich nicht.“

Freising bat und drohte vergebens. Er wäre zur Noth selbst hinuntergestiegen, um mit Gefahr seines Lebens die geliebten Acten zu retten, aber er konnte sich ja nicht von der Stelle rühren, und sein Fuß begann heftig zu schmerzen. Er schien wirklich das Opfer tückischer Mächte zu sein, die sich für den Spott rächen wollten.

„Was fangen wir nun an?“ seufzte er.

„Ja, irgend etwas müssen wir anfangen,“ meinte Anselm. „Wir können nicht hier im Schnee sitzen bleiben, und gehen können Sie nicht. Setzen Sie sich auf das Pferd, Herr Justizrath, ich führe es am Zügel bis zum nächsten Gehöft.“

„Auf keinen Fall!“ protestirte Freising. „Soll die wilde Bestie zum zweiten Male mit mir durchgehen? Ich bin ja ganz hülflos, da ich den Fuß nicht regen kann.“

Der Kutscher versuchte nichtsdestoweniger einen Sattel zu improvisiren, das Pferd aber, ein junges, lebhaftes Thier, schien das übel zu nehmen und machte so bedenkliche Bocksprünge, daß die Sache aufgegeben werden mußte.

Man kam endlich überein, Anselm solle nach dem nächsten Gehöft eilen, das leider fast eine halbe Stunde entfernt war, um dort den Schlitten des Bauers zu requiriren, und dann seinen Herrn abholen. Dieser mußte nothgedrungen zurückbleiben, da er nicht fähig war, auch nur zehn Schritte zu gehen. Er hinkte mühsam nach der Felswand, die ihm wenigstens einigen Schutz vor dem Schneetreiben gewährte, und ließ sich dort auf einem Stein nieder, während der Kutscher mit dem Pferde sich auf den Weg machte.

Da saß nun der arme Justizrath neben den Trümmern seines Schlittens, mitten auf der öden Bergstraße, in Schnee und Einsamkeit. Er kam sich völlig verlassen und verloren vor und wurde immer muthloser, je länger er wartete. Wenn nun Anselm gar nicht wieder kam, wenn inzwischen ein Schneesturm ausbrach, der ihm die Rückkehr unmöglich machte, dann mußte sein Herr hier elendiglich umkommen und wurde endlich erfroren und verschüttet aufgefunden.

Das Schneegestöber wurde immer heftiger, der Nebel immer dichter, nur von Zeit zu Zeit tauchte die Geisterspitze daraus hervor und blickte höhnend nieder auf ihr Opfer, das sich jetzt einer düsteren Melancholie hingab.

So also sollte ein Leben endigen, das nie der warme Sonnenstrahl der Liebe berührt, dem immer nur das kalte Mondenlicht der Hochachtung geleuchtet hatte! Der Justizrath seufzte tief auf bei der Erinnerung an die fünf Körbe, die er mit in das Grab nahm, und dann tröstete er sich wieder mit dem Gedanken an das Aufsehen, das sein Tod überall machen werde. Ja, an Hochachtung hatte es ihm nie gefehlt, die Zeitungen der Stadt brachten sicher einen ehrenvollen Nachruf:

„Wir erfüllen hiermit die traurige Pflicht, unseren Lesern mitzutheilen, daß einer der bekanntesten und beliebtesten Rechtsgelehrten, Justizrath Freising, ein beklagenswerthes Ende gefunden hat. Die ganze Umgegend wird mit uns den Verlust dieses ausgezeichneten Mannes empfinden, und leider sind mit ihm auch kostbare und unersetzliche Urkunden aus dem Felsenecker Archiv zu Grunde gegangen.“

Hier übermannte den Justizrath der Schmerz von Neuem, er streckte beide Arme empor zu der Geisterspitze, die eben wieder auf einen Moment aus den Wolken hervorblickte, und rief ganz laut:

„Du weißes Ungethüm! Gieb mir meine Acten wieder, und ich – ja wahrhaftig – ich will an Deine Hexerei glauben!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_318.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2024)