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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

aufnimmt. Ein Gewächs, welches am hellen Tage sein grünes Gewand sozusagen über den Kopf zusammenschlagen und die Kehrseiten der Blätter zeigen wollte, würde uns „nicht recht bei Troste“ erscheinen, nur der Wind treibt solche Scherze, wenn er zur Freude der Maleraugen die Wipfel der Weißpappeln und Weiden aufwühlt.

Die Compaßpflanze gehört aber zu der viel beschränkteren Anzahl von Pflanzen, welche ihre Blätter auch auf offenem Felde nicht wagerecht gegen den Himmel ausbreiten, sondern sie mehr oder weniger scharf senkrecht stellen, sodaß die Strahlen der glühenden Mittagssonne machtlos an ihren beiden Flächen hinabgleiten. Daß nun aber die Spitzen dieser senkrecht stehenden Blätter, und namentlich der Wurzelblätter, theils nach Norden und theils nach Süden zeigen sollten, während die Flächen der Blätter theils nach Osten und theils nach Westen gerichtet wären, wollten die Botaniker vom Fach anfangs nicht zugeben. Ein im botanischen Garten zu Cambridge (Massachusetts) gezogenes Exemplar zeigte diese Haupteigenthümlichkeit der Pflanze, auf welcher doch ihr ganzer Ruhm ruhete, nicht, und ebenso wenig konnte sie der berühmte Botaniker Hooker an Exemplaren bemerken, die im Garten zu Kew gezogen worden waren. Der General Alvord ließ sich indessen durch alle diese gegen seinen Liebling geäußerten Zweifel und Einwendungen nicht irre machen. Er stellte von Neuem in der Prairie Hunderte von Messungen an und ließ sie durch den Stab seiner Officiere und Feldmesser wiederholen, die mit dem Compaß in der Hand feststellten, daß die weitaus größte Zahl aller von ihnen auf den heimathlichen Gefilden untersuchten Pflanzen streng in der Mittagslinie (Meridianebene) gewachsen waren, sodaß die eine Hälfte ihrer Blätter nach Norden, die andere nach Süden zeigte, keines nach Osten oder Westen, welchen Himmelsgegenden vielmehr stets die abwechselnden Flächen der Blätter zugewendet waren. Der General Alvord brachte diese glänzende Rechtfertigung seines Schützlings und die Bestätigung des Indianerglaubens 1849 vor die Versammlung der amerikanischen Naturforscher zu Cambridge, und seitdem ist der Ruf der Compaßpflanze nicht mehr angetastet worden.

Damit hatte sich zu dem alten noch ein neues Mysterium gesellt; es blieb nun nicht blos zu erklären, worin die richtende Macht der Pflanze überhaupt bestehe, sondern auch, weshalb sie dieselbe anscheinend bei der Cultur verliere. Man stellte mancherlei Untersuchungen darüber an, die aber meist nur über nebensächliche Fragen Auskunft gewährten. So wurde z. B. durch Edward Burgeß festgestellt, daß bei den Blättern der Compaßpflanze, ähnlich wie bei andern senkrecht gestellten Blättern und blattartigen Zweigen, der anatomische Bau von Ober- und Unterseite viel weniger verschieden ist, als bei wagerecht ausgebreiteten Blättern, und daß namentlich die Zahl der Spaltöffnungen auf beiden Seiten fast völlig gleich war; es giebt ja hier keine Ober- und Unter-, keine Licht- und Schattenseite, sondern nur eine Ost- und eine Westseite.

Vergebens suchte F. W. Whitney (1871) und noch später ein amerikanischer Gärtner, Namens Meehan, die Ursache der Orientirung nach den Himmelsrichtungen zu ermitteln, ohne dieselbe völlig aufzuklären. Diejenigen, welche sich mit Worten begnügen, faselten von einer eigenthümlichen magnetischen Richtkraft, wie sie einst Middendorff zur Erklärung des Orientirungssinnes der Wandervögel herbeigerufen hatte – und worin ihm noch heute unklare Köpfe nachbeten – und Andere träumten gar von dem Einflusse der elektrischen Erdströme, denen die Pflanze ihre Polarität verdanken sollte. –

Erst ein deutscher Botaniker, Professor Dr. C. Stahl in Jena, hat in jüngster Zeit das Räthsel der Compaßpflanzen ergründet und zwar an einer durch ganz Deutschland verbreiteten Compaßpflanze, dem wilden Lattich (Lactuca Scariola) unserer Triften und Wegränder, einer nahen Verwandten unseres allbeliebten Kopfsalats. Er fand, daß dieser wilde Lattich (und noch einige andere bei uns einheimische Pflanzen) ebenso genau

Deutschlands merkwürdige Bäume: 2. Die tausendjährige Linde in Puch bei Fürstenfeld.
Nach der Natur gezeichnet von Th. Grätz.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_293.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2023)