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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

des Alkohols, des Tabaks und der religiösen Gleichgültigkeit lossagen, und der General rechnet mit richtiger Menschenkenntniß darauf, daß die öffentliche, in Gegenwart der Cameraden der Proselyten abgegebene Erklärung der erfolgten Erlösung auf diese selbst eine günstige Einwirkung hervorbringen müsse. Es ist denn auch Thatsache, daß fast jedes Mal, wenn ein Mitglied einer Arbeitergruppe von den Salvationists bekehrt wird, bald mehrere andere, von seinem Beispiel angesteckt, „reuig“ werden.

Um den Neuling abzuhalten, eine vielleicht nur in momentaner Gefühlsanwandlung an den Tag gelegte Büßerstimmung rasch wieder verfliegen zu lassen, wird alles gethan, um ihn zur praktischen Bethätigung seines lauten Bekenntnisses zu bewegen. Er muß, ehe die Versammlung aus einander geht, eine die Buchstaben „S. S.“ („Sinner saved = Erlöster Sünder“) zeigende Medaille an seinen Rockkragen heften und bereit sein, schon Tags darauf an einem Straßenumzuge Theil zu nehmen, um dem Publicum zu sagen, was der Herr für seine Seele gethan. Auch hat er während der Versammlungen entweder als Thürsteher zu fungiren oder auf der Platform Platz zu nehmen; zur Abwechselung besorgt er den Straßenverkauf des Armee-Organs „War Cry“ („Kriegsgeschrei“), das wöchentlich zum Preise von 1 Halfpenny (41/4 Pfennig) erscheint und bereits in einer Auflage von 300,000 Exemplaren verbreitet ist.

Des Neubekehrten Name und Adresse werden in’s Recrutenbuch eingetragen, und er selbst wird unter die Ueberwachung eines „Sergeanten“ gestellt, der die Pflicht hat, darauf zu sehen, daß der Jünger seinen neuen Obliegenheiten gerecht wird; geschieht dies nicht, so beauftragt der Capitain der betreffenden Abtheilung den Sergeanten oder einen „Gemeinen“, den Säumigen in seiner Wohnung aufzusuchen. Die „Recruten“, die sich drei Monate lang tapfer halten und nicht in ihre alte Lebensweise zurückfallen, werden nach Ablauf dieser drei Probemonate „Soldaten“; als solche erhalten sie einen Schein, der von Vierteljahr zu Vierteljahr erneuert wird, so lange sie sich gut aufführen. Sie gehen des Tages über ihrem gewöhnlichen Berufe als Arbeiter etc. nach und widmen blos ihre freien Stunden dem Dienste in der Seligmacher-Armee. Erst wenn sie zu Officierem avanciren, treten sie gänzlich in die Dienste des Generals und erhalten eine mäßige Bezahlung. Natürlich werden nur die Bewährtesten Sergeants, Lieutenants, Capitains und Majore.

Aus unseren bisherigen Mittheilungen geht vor Allem zweierlei hervor: erstens, daß der in Rede stehende Verband in erster Linie Missionszwecke verfolgt; zweitens, daß seine Organisation eine rein militärische ist. Die Seligmacher unterscheiden sich von den sonstigen Missionsanstalten hauptsächlich dadurch, daß sie es nicht auf Atheisten, Juden, Heiden etc., sondern blos auf säumige Christen, lässige Bekenner aller christlichen Confessionen abgesehen haben und daß sie Niemanden zu einer bestimmten christlichen Secte bekehren wollen, sondern nur zu einem „christlichen, gottgefälligen“ Lebenswandel im Allgemeinen. Ihre Mitglieder gehören allen möglichen Secten an und dürfen glauben, was sie wollen, so lange sie Christus verehren und den vom General gegebenen Vorschriften nachkommen.

Was die Organisation betrifft, so verdankt sie ihr Entstehen dem Begründer der „Armee“, der jetzt ihr General ist: dem früheren Methodistenprediger William Booth. Dieser kam vor siebenzehn bis achtzehn Jahren nach London und war über das rohe Leben, das er im Eastend beobachtete, über die Trunksucht und Rauflust der Arbeiterbevölkerung und ihre Abneigung gegen den Kirchenbesuch so entsetzt, daß er beschloß, sein Leben der Rettung oder Seligmachung jener Unglücklichen zu widmen. Er richtete eine „Christliche Mission“ ein, der er anfangs einen patriarchalischen, später einen parlamentarischen Charakter verlieh. Bei dem unwissenden Publicum, an das er sich wandte, verfing all dies nur schwach, sodaß er sich vor sieben bis acht Jahren veranlaßt sah, den Verband auf militärischem Fuße umzugestalten. Der Erfolg war so riesig, daß er 1877 schon über 29 Armeecorps, 31 bezahlte Officiere, 625 geschulte Soldaten und ein Jahreseinkommen von 4200 Pfund verfügte; gegenwärtig bestehen 331 Corps, die Anzahl der Officiere beträgt 760 Männer und Weiber mit Wochengehältern von 15 bis 27 Schilling, die der Soldaten über 15,000, die der wöchentlichen Missionsversammlungen mehr als 6200, und das Einkommen der Armee – welches zumeist aus freiwilligen Spenden reicher Religions- und Mäßigkeitsfreunde, aus Sammlungen bei den Meetings und aus dem Erlös der Verbandschriften besteht – stellt sich für 1882 auf 70,000 bis 80,000 Pfund Sterling. Allmählich hat sich die Bewegung auf ganz London, seit zwei Jahren auf ganz England erstreckt, und seit einigen Wochen werden „Cadetten“ nach Schweden, Schottland, Irland, Holland, Australien und den Vereinigten Staaten geschickt, um die Fahne der Seligmacherei nach allen Weltgegenden zu tragen. In Ostindien haben sich einige Armeecorps schon vor drei Vierteljahren ansässig gemacht, und in Calcutta erscheint sogar schon ein „Indian War Cry“ als Zeitungsorgan der indischen Zweigniederlassung der Armee.

Bemerkenswerth ist, daß Booth, der seit siebenzehn oder achtzehn Jahren ausschließlich für seine Armee lebt, keinerlei Bezahlung annimmt, und er hat wahrlich keine Sinecure inne; denn jedes Detail der bereits so umfassenden Bewegung geht durch seine Hände. Er redigirt den „War Cry“ verfaßt die „Verordnungsbücher“, die „Weisungen“ u. dergl. m., kauft Grundstücke, miethet Versammlungslocale, leitet die Prüfungen der Cadetten – kurz, er ist der unumschränkte und allgegenwärtige Despot der Salvation Army; man ist daher auch vielfach der Ansicht, daß dieselbe nach seinem Tode zerfallen werde; denn man hält seinen Sohn für einen zu wenig bedeutenden Kopf und zu geringen Menschenkenner, als daß er im Stande wäre, seinen Vater zu ersetzen.

Das Verfahren der Armee beim Anlocken von „Büßern“ zeichnet sich vor allem durch eine erstaunliche „Volksthümlichkeit“ der Sprache aus, was bei dem Umstande, daß die Armee aus den niedrigsten Classen zusammengesetzt ist, nicht Wunder nehmen kann. Die Ausdrücke, die man auf den Erlösungsversammlungen stündlich hören und auf den vom „Hauptquartier“ ausgehenden Plakaten täglich lesen kann, sind so burschikos, daß ernste Religionsfreunde sich darob entsetzen. Die Plakate nennen Christus mitunter einen „gemüthlichen Jungen“, den Propheten Elia einen „lustigen alten Herrn“ und behaupten von Gott, er „balge sich fortwahrend herum“, und was dergleichen heitere Dinge mehr sind; das mißfällt natürlich der Geistlichkeit entschieden und hält sie zum großen Theil noch ab, die Seligmacher, deren Tendenzen sie im Allgemeinen billigt, offen zu unterstützen.

Aber Booth kann und darf dem Uebel nicht steuern; denn gerade diese Sprache ist es, die im Verein mit der lärmenden Musik das niedrige Publicum anzieht, welches die gewöhnlichen „würdevollen“ Missionen langweilig findet und daher verschmäht.

Ist schon die ganze Seligmacher-Bewegung, weil auf Sensation und Skandal berechnet, als ein socialer Auswuchs zu bezeichnen, so muß man insbesondere noch auf Eines tadelnd hinweisen: General Booth hat sich nämlich in neuerer Zeit auch der Kinder angenommen und einen „Kinderkrieg“ organisirt. So unsinnig dies auch sein mag, so hätte es an sich vielleicht nicht viel zu bedeuten, wenn die Art, wie dieser „Krieg“ geführt wird, nicht so lächerlich wäre und nicht so große Gefahren bärge. Vor etwa fünf Vierteljahren begründete Booth ein Seitenstück zum „War Cry“ den „Little Soldier“ („kleiner Soldat“), von dem schon jetzt wöchentlich über 60000 Exemplare abgesetzt werden. Nichts kann so sehr den allgemein anerkannten Grundsätzen einer guten Kindererziehung widersprechen als der seltsame Inhalt dieses Blättchens, dessen Spalten zumeist mit Briefen kleiner Kinder gefüllt sind, welche in endloser Wiederholung verkünden, daß sie „Gottlob erlöst sind“ und sich „auf dem glücklichen Wege zur Glorie befinden“. Wir hätten es nie für möglich gehalten, daß ein so kluger Kopf wie Booth Kinder durch Druckerschwärze ermuthigen kann, Briefe zu schreiben wie der folgende:

„Ich danke Gott, denn ich bin gerettet und auf dem Wege zum Himmel. Meine Brüder Georg und Teddy sind ebenfalls erlöst, desgleichen das Baby (!). Ich bedaure, daß weder Papa noch Mama bisher gerettet sind, hoffe aber, daß sie es bald sein werden. Mama liest dem Papa sehr gerne Abends im Bette Romane vor. Bitte, beten Sie für ihre baldige Rettung! Beten Sie auch für mich; denn ich bin ein ausgelassenes Mädchen und ärgere Mama zuweilen.      Ida, zehn Jahre alt.“

Auch giebt es bereits eigene Kindercasernen und Kinderversammlungslocale, in denen die Kleinen „erlöst“ und „gedrillt“ werden. Sollten diese Narretheien überhand nehmen, so wird die Seligmacher-Armee wohl ein schnelles Ende nehmen – und das wäre ein Segen.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_127.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2023)