Seite:Die Gartenlaube (1883) 126.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Jünger müssen sich eidlich verpflichten, nie wieder geistige Getränke zu berühren, während die Mitglieder der Gelbband-Armee nur für eine gewisse Mäßigung im Genusse von Wein, Bier und Schnaps eintreten.

Nach Verlauf einer Stunde etwa stießen wir auf einen zweiten Umzug. Diesmal war es die neue „Skelet-Armee“, eine Gesindelbande, die von den Schankwirthen geradezu bezahlt wird, um mit Bannern, auf denen Todtenköpfe sichtbar sind, in den Straßen des Eastends – wo die Branntweinkneipen die besten Geschäfte machen – umherzuziehen und die „Seligmacher-Armee“, welche den Genuß alles Alkohols verpönt, anzufallen, in der Absicht, sie aus jenem Stadttheil zu vertreiben. Gewöhnlich schreiten diese besoldeten Hallunken ruhig einher; sobald sie aber auf ein Detachement der „Salvation Army“ stoßen, setzt es eine Rauferei ab.

Mein Begleiter bat mich, ihm Näheres über die „Seligmacher-Armee“ mitzutheilen. Ich nahm ihn unter den Arm, schlug eine westliche Richtung ein und sagte: „Du wirst bald selber sehen.“ Es dauerte in der That nicht lange, bis wir auf einen Trupp „Salvationists“ („Seligmacher“) stießen, der sich durch den lärmenden Klang von Blasinstrumenten schon von Weitem ankündigte. Als die Procession sich uns genähert hatte, bemerkten wir an ihrer Spitze einen uniformirten Jüngling, der eine Fahne trug und von einem jungen Weibe begleitet war, welches rückwärts ging und als Capellmeisterin fungirte. Zunächst folgten vier Bursche, die mit mehr Energie als Wohlklang verschiedene Blasinstrumente bearbeiteten, sodann mehrere Reihen von Männern, fünf bis sechs Mann stark, ferner ebenso viele fünf- bis sechsgliedrige Frauenreihen und endlich noch einige Reihen Männer. Alle sangen jubilirenden Tones eine christliche Hymne in Knittelversen und blickten ernst und zielbewußt drein; sie schritten rasch vorwärts und schienen gar nicht zu wissen, daß die Passanten ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit zusahen oder daß ihnen ein Troß Neugieriger folgte. Ein Theil des Publicums stimmte in den Gesang mit ein, während die Gassenjungen entweder recht profane Melodien pfiffen oder die harmlosen „Soldaten“ der Seligmacher-Armee mit allerlei unsauberen Gegenständen bewarfen.

Plötzlich löst sich die Procession auf; an einem Kreuzwege bilden ihre Mitglieder einen Kreis. Der Troß bleibt ebenfalls stehen und wächst alsbald beträchtlich an. Einer der „Officiere“ der Armee stellt sich inmitten des Kreises auf und beginnt, gravitätischen Antlitzes und heftig gesticulirend, in der volksthümlichen Manier der „Salvation Army“ zu predigen:

„Freunde! Gottlob bin ich auf der Reise gen Himmel begriffen. (Die „Soldaten“ singen hier: „Hallelujah!“) Aber es genügt mir nicht, allein dahin zu reisen; ich will, daß Ihr mich begleitet – jeder Einzelne von Euch! Wollt Ihr mitkommen? Ich frage Euch: wollt Ihr? Ihr könnt mitkommen – selbst der Aergste unter Euch kann in den Himmel gelangen. (Die „Soldaten“: „Ei freilich! Ihr könnt; gepriesen sei der Heer!“) Vor einem Jahre war ich ein ebenso schlimmer Lumpenkerl wie irgend Einer von Euch. Das Saufen brachte mich oft dem Wahnsinne nahe, aber Jesus zeigte mir den vor mir gähnenden Höllenschlund und, was noch besser war, er bewies mir seine Liebe; er reinigte mich in seinem Blute und erlöste mich („Amen! Hallelujah!“) O Freunde, lasset ihn dasselbe für Euch thun, heute, sofort! Er sehnt sich danach. Kommt mit uns zur Versammlung und höret dort von seiner Erlösung!“

Nach Hersagung eines kurzen Gebets formirt sich die Procession von Neuem, beginnt wieder eine Hymne zu singen, bewegt sich vorwärts und macht von Zeit zu Zeit an Straßenecken Halt, um abermals durch den Mund eines der „Officiere“ eine rednerische Leistung im Style der obigen vom Stapel zu lassen, bis sie schließlich vor einer der Versammlungshallen der Armee eintrifft, wohin ihr ein zahlreiches Publicum folgt. Während des Einzuges wird gewöhnlich eine Hymne gebrüllt, die etwa sagt:

„Wir wollen unser Banner hoch tragen, das Erlösungsbanner; wir werden für dasselbe kämpfen, bis wir sterben und unser Heim im Himmel beziehen.“

Die Halle, die ich, unserer Truppe folgend, mit meinem Freunde betrat, liegt in der bekannten Oxford Street und heißt „Regentenhalle“. Vor dem Eingange hängt eine Laterne, die genau den vor den Wirthshäusern befindlichen gleicht und die Inschrift trägt: „Kommet! Erlösung! Vollständige und unentgeltliche Erlösung!“ Ich theile meinem erwartungsvollen Begleiter mit, daß uns ein „Erlösungsmeeting“ bevorsteht. Ehe dieses beginnt, bleibt uns Zeit, Umschau zu halten. Der Saal ist sehr groß, schmucklos und von Bänken erfüllte die selbst an den Abenden der Wochentage – die Meetings finden gewöhnlich zwischen halb acht und neun Uhr statt – dicht mit verwahrlosten Männern und Weibern, besonders den ersteren, besetzt sind. An der einen Wand befindet sich eine Platform, auf welcher eine Anzahl „Soldaten“ beider Geschlechter Platz nimmt und in deren Mitte ein einfacher Tisch steht, auf dem wir einige Hymnenbücher und eine Bibel bemerken, sowie einen Wasserkrug, der Allen als gemeinsamer Erfrischungquell dient. Alle Anwesenden dürfen nach Belieben lachen und plaudern, bis der „Capitain“ durch das Erheben einer Hand den Beginn des Gottesdienstes andeutet. Der „Captain“ ist ebenso oft eine Frau wie ein Mann, wie auch die Fahne bei den Umzügen von Mädchen oder Frauen getragen werden kann.

Den Anfang des Gottesdienstes macht eine stehend und schleunig gesungene Hymne mit einem Brüllrefrain, der jedesmal mit der größten Begeisterung wiederholt wird. Während des letzten Verses knieen die „Soldaten“ nieder und legen einen erhöhten Andachtseifer an den Tag. Ein großer Theil der Zuhörer fühlt sich gleichsam moralisch verpflichtet, den Nacken ein wenig zu beugen, viele aber bleiben ostentativ aufrecht sitzen und lachen.

Zunächst wird zum Gebet aufgefordert; ein „Soldat“ betet nach dem andern, wobei er sich nach Art der orthodoxen Juden hin und her wiegt, die Fäuste ballt, sehr laut spricht und alles thut, um sich und die übrigen in Aufregung zu bringen. Die sehr kurzen Gebete folgen mit größter Schnelligkeit auf einander, und die anwesenden Seligmacher begleiten jeden Beter mit lebhaften Gesticulationen, lärmenden Hallelujahs und anderen Ausrufen. Alle diese Gebete ähneln sich gar sehr: hier ein Durchschnittsmuster:

„Herr! Wir wünschen, daß du mit uns seiest. Sei jetzt mit uns! Herr! Wir bedürfen der Stärke; schicke unserer Versammlung Stärke! Du siehst diese lieben Leute, die mitten in ihren Sünden zu Grunde gehen; Herr, hilf ihnen! Herr, rette sie! Erlöse sie gegenwärtig! Vor Mitternacht können sie in der Hölle sein; o Herr, komm herab und erlöse sie! Wir glauben, daß du das kannst; wir glauben, daß du es willst. Komm, Herr, komm jetzt; und du wirst den ganzen Ruhm haben. Amen!“

Sodann werden Hymnen sitzend gesungen und von einem „Officier“ erläutert. Ferner fordert der vorsitzende „Capitain“ Jene im Publicum, „die sich für Sünder halten“, auf, hervorzutreten, in der vorderen Bank niederzuknieen, die gepredigten Lehren Christi, sowie die Gesänge der Seligmacher auf ihr Gemüth einwirken zu lassen und, sobald sie fühlen, daß sie „erlöst“, das heißt: daß sie durch den Glauben an Christus von ihrer Sündenlast befreit seien, aufzustehen und – so heißt es in dem vom „General“ der Armee verfaßten „Instructionsbuch“ – „den Anwesenden zu sagen, was der Herr für sie, die ‚Geretteten‘, gethan“.

Jede Strophe der Hymne wird von der Armee und nach Belieben vom Publicum wiederholt, wobei die „Soldaten“ die größte Begeisterung an den Tag legen. Sodann wird ein Gebet gesprochen und eine weitere Strophe begonnen. Plötzlich erhebt sich einer der Zuhörer, geht nach vorne und kniet in der ersten Bank nieder, um zu verkünden, daß er fühle, Christus habe ihn selig gemacht. Einer der „Soldaten“ setzt sich neben ihn, ertheilt ihm gute Rathschläge, betet mit ihm und schärft ihm ein, daß er, wenn er sich der „Salvation Army“ anschließen wolle, dem Genuß aller geistigen Getränke und des Tabaks gänzlich entsagen müsse, sowie keinerlei Sünde mehr begehen dürfe. Allmählich wird die erste Bank – officiell „Bank der Reuigen“ genannt - von mehreren anderen „Büßern“ besetzt; ihre Zahl beläuft sich bei manchem Meeting auf Dutzende.

Sie knieen, weinen, beten und singen oder sprechen Hymnen nach dem folgenden Muster:

„Hier gebe ich mich dir hin, mich, meine Freunde, mein irdisches Sein, um mit Leib und Seele dir anzugehören, gänzlich dir auf immerdar. Lebet wohl, meine allen Cameraden! Ich will nicht mit euch zur Hölle fahren; ich will bei Jesus Christus weilen; lebet wohl, lebet wohl!“

Dies ist der Punkt, auf den die Leiter der „Armee“ hauptsächlich sehen. Der Neubekehrte muß sich nicht nur von seinen früheren

Gewohnheiten, sondern auch von dem Umgange mit den Anhängern

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_126.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2023)