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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

einer breiten Straße her (es war wohl der Boulevard St. Germain), und bald sahen wir ein Gewoge von Soldaten, ohne jede Ordnung, die reitenden Officiere mitten im Haufen, daherziehen. P. riß mich hastig fort: ich sollte nicht sehen, was da vorging. Ich wußte es ja schon: es war eine Abtheilung der heute entwaffneten Pariser Linientruppen, die durch den Waffenstillstandsvertrag zu Kriegsgefangenen erklärt worden waren. Ich hörte noch das Toben, als schon ein neuer Anblick mich fesselte: ich sah die Thürme von Notre-Dame; die Geschichte erhob ihre Riesenstimme, und wo sie spricht, da schweigt selbst eine Gegenwart wie die damalige. Bald war die Brücke über den schmalen Seine-Arm erreicht und überschritten, und da stand ich vor dem weltberühmten Gotteshaus.

Zu welchen Ereignissen haben die Glocken dieser Thürme schon geläutet! Aber die Geschichte ist unerbittlich auch in ihrer Satire. Kaum im Inneren des Domes – und mein erster Blick auf den Hochaltar läßt mich aus fürchterlichster Vergangenheit dort die Göttin der Vernunft als ungebetete Gottheit schauen. Ströme von Thränen haben jene Entweihung gesühnt, – und die Tage dieser Belagerung haben nicht wenig dazu beigetragen. Nur in den Kirchen waren jetzt die hohen vornehmen Frauengestalten zu finden, schwarz umhüllt vom Haupt bis zu den Füßen. Hier weinten Mütter, Bräute, Schwestern ihr bitteres Leid aus. So sah ich’s in Orleans, und so hier. Weder Orgelklänge noch Gesang oder Priesterworte vernahm ich. Hier predigte das Schicksal allein und so eindringlich, daß man das Gotteshaus nur in tieferregter Stimmung verlassen konnte.

Draußen erwartete uns der grellste Contrast. Hinter der Notre-Dame hatte man eine große Anzahl Feldgeschütze zur Uebergabe an die Deutschen bereit gestellt und durch einen Lattenverschlag abgesperrt. Hier tobte abermals der Preußenhaß sich aus. Wir eilten davon, wieder über eine Brücke, und wieder stand die Geschichte vor uns da, aber diesmal mit blutrother Fackel. Vor uns dehnte zur Rechten der Prachtbau des „Hôtel de Ville“, des Rathhauses von Paris, und vor ihm der schreckliche Grèveplatz sich aus.

Das Blut konnte Mühlen treiben, das auf diesem Platze vergossen worden ist, und was Könige und Priester durch die feile Justiz hier gemordet, ist haarsträubend. Selbst die Guillotine der Revolution versuchte hier ihre ersten Leistungen, bis sie auf den Concordienplatz übersiedelte. Das Hôtel de Ville ist ein alter Revolutionsherd, den Louis Napoleon und Herr Haußmann durch die schußgerecht regulirten Boulevards und Avenuen und die Nachbarschaft zweier starker Casernen glaubten erstickt zu haben. Trotz alledem ist von diesem Hause die Absetzung des Kaisers und die Einsetzung der Republik ausgegangen, und selbst die Republik hatte bereits eine Revolte hier auszuhalten, deren Merkmale, die zerschossenen Fensterscheiben rechts in der Beletage, ich an diesem 8. Februar noch gesehen habe.

Vom Grèveplatze aus betraten wir die Rue de Rivoli, die in etwa dreiviertel Stunden Länge bekanntlich eine das Auge entzückende Schönheit entfaltet. Heute überraschte uns hier ein anderes Bild: eine Viehheerde wurde vom nächsten Bahnhofe her vorbeigetrieben und nicht blos von den Gamins, sondern auch von Alt und Jung mit einem Jubel begrüßt, als hielte ein Triumphator seinen Siegeseinzug.

Wir verfolgten die Rue de Rivoli in westlicher Richtung und gelangten so zum „Square Saint Jacques“ mit dem prächtigen alten isolirten Thurme, den reizenden Anlagen und – eine wahre Herzensfreude – mehreren Gruppen spielender Kinder. Unwillkürlich und nur mit der Vorsicht, sie nicht zu stören, näherte ich mich der lieblichen Schaar, die mit Ringelreihen, ganz wie bei uns, mit Fangen und Ballwerfen, Lachen und Singen sich erlustigte. Gar zu gern hätte ich die Spielreime, die sie sangen, erlauscht, aber P. mahnte ab. „Mein Freund,“ sagte er, „wir dürfen nicht auffällig werden, und Ihr Hindrängen zu den Kindern fällt auf.“ So mußte ich denn fort von dem herzerfrischenden Bilde, blickte aber so lange wie möglich zu ihm zurück.

Wir wandten uns nun rechts in den Boulevard de Sebastopol und von da unserm nächsten Ziele zu: den Halles centrales. Die Berühmtheit dieser großen Markthallen ging aus der Pariser Volks- in die Weltgeschichte über durch die Tapfersten der gesammten Pariser Volksfrauenwelt, – die Damen der Halle! Der dritte Napoleon schuf ihnen die zwölf prächtigen, aus Eisenrippen zusammengefügten und mit Glas bedeckten Hallen, die sich von Punkt zwölf Uhr an jede Nacht zu füllen begannen aus den Zufuhren der acht Bahnhöfe und der vielen Thore der Stadt, um jeden Morgen mit frischen Genüssen die zwei Millionen Mägen und Gaumen von Paris zu versorgen. Der arme Napoleon! Jetzt nannte ihn kein Damenmund in diesen Hallen anders, als Badinguet, Coquin, Prussien – und „beim höllischen Element, es giebt nichts Aergeres, daß sie’s schimpfen könnt’!“ –

Die Hallen waren erst Tags zuvor wieder eröffnet, die Zufuhren aber noch lange nicht genügend, um solche Räume auszustatten. Das Gedränge war ziemlich stark, doch kamen mir viele der Anwesenden mehr wie traurige Zuschauer als wie flotte Käufer vor. Manche der Verkäufer hatten ihr ganzes Krämchen auf ihrem reinlichen Taschentuche am Wege ausgebreitet; das war der Kleinhandel in seiner äußersten Entfaltung. Die Damen der Halle zerfallen bekanntlich in zwei Rangstufen: die angesessenen unter dem Glasdache und die ihren Tisch und Stuhl bei sich tragenden an den Verbindungsstraßen der Hallen. Die Belagerung hatte beide ein wenig niedergedrückt, aber doch standen verschiedenen die weißen Hauben so herausfordernd auf den Häuptern, daß gewiß wenig dazu gehört hätte, sie zu einem Ausbruche ihrer historischen Mission emporzuschnellen.

Aus den Hallen begaben wir uns an der Kirche St. Eustache, bei deren Gliederbau Gothik und Renaissance sich vereinigt haben, vorüber in die Rue J. J. Rousseau, wo im Hôtel des Postes das Central-Bureau derselben war. Für dieses Institut war soeben die luftige Wirthschaft der Ballonposten zu Ende gegangen und das irdische Treiben noch nicht recht im Zuge. Die Briefe mußten – „das ist der Krieg“ – unverschlossen übergeben werden.

Nachdem wir im Vorbeigehen zwei Tempel des Mammon, die Bank und den Börsenpalast, betrachtet, führte P. mich durch eine „Rue du quatre Septembre“ (der Geburtstag der jüngsten Republik hatte bereits seine Straße erhalten) und über den Boulevard des Capucines vor das große neue Opernhaus, dessen Fenster, Dächer und Ornamente noch zum Theil mit den Sandsäcken verdeckt waren, die sie gegen die deutschen Bomben beschützen sollten.

Auf den Boulevards des Capucines und de la Madeleine war man für die Wahl zum Parlament in Bordeaux (nicht in Tours, wie ich im vorigen Artikel, Seite 100, irrig angab) in voller Thätigkeit. Jedem Vorübergehenden wurden von allen Parteien Wahlzettel überreicht, auch mir, und es freute P. ganz besonders, daß ich von diesen Menschenkennern der Straße für einen alten Pariser Citoyen angesehen wurde.

Eines der schönsten Bauwerke von Paris ist die Kirche St. Madeleine, nach welcher der hier beginnende Boulevard benannt ist. Ihr „säulengetragenes herrliches Dach“ winkte nicht vergebens; lockte zu ihr doch auch ein schöner Gesang, von einer äußerst wohlklingenden Orgel begleitet, und Weihrauchduft quoll uns am Portal entgegen. Der weite Raum konnte Einem wie ein Zufluchtsort der verwundeten und kranken Soldaten der Linie erscheinen. Vor allen Altären knieeten in Menge die armen Rothhosen. Vor dem Portale auf der hohen Freitreppe eröffnet sich ein imponirender Blick auf den Eintrachtsplatz und den Invalidendom mit seiner stolzen Kuppel. P. aber ließ sich nicht schon jetzt dorthin verführen. Wir kehrten zu den beiden genannten Boulevards zurück und gingen von da durch eine „Friedensstraße“ (Rue de la Pair) zum Vendômeplatz und der hochragenden Säule, die drei Monate später umgestürzt und dann doch wieder aufgerichtet wurde. Auch auf diesem Platze war die Wahlbewegung rege. Während ich meinem Halse die Qual anthat, die Säule zu betrachten, zog ein Leichenbegängniß daher – und es ward merklich stiller. Ich sah wirklich die Männer zur Linken und Rechten der Straße die Häupter entblößen und den Zug stehend und schweigend vorüberlassen. Der Sarg wurde unbedeckt getragen; statt unseres schwarzen Leichentuchs schwebte ein heller, fransenverzierter Baldachin darüber. Dem Sarge folgten viele Männer und Frauen des Mittelstandes. Also keine „vornehme“ Leiche, und doch die Theilnahme! Jules P. erklärte mir’s: „Die Belagerung und das gemeinsame Unglück hat, wie es uns auf einander anwies, uns Pariser auch einander näher geführt. Man liebt sich mehr, als im Glück; mit der allgemeinen Noth wird das leider auch wieder vergehen.“

Durch die „Rue neuve des petits Champs“ gelangten wir um die Mittagsstunde zum Palais royal, der Riesenwiege der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_118.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2023)